Mir war, so fuhr Franz fort, plötzlich wie eine Decke von meinem Angesicht genommen. Ich kann wohl sagen, daß durch diese eine Unterredung mein ganzes Wesen verwandelt war. Die Wahrheit, die Wirklichkeit war nun endlich mit siegender Gewalt auf mich eingedrungen. Manche Lebensperioden sind einem lebhaften, wundersamen Traume zu vergleichen, man erwacht zur Nüchternheit, aber man fühlt sich doch erwacht.
O mein Freund, diese Wahrheit aber war oder erzeugte mir die Hölle. Mein Geist gab dem edeln Vater in allen Dingen nach, er hatte recht, im vollkommensten Sinne des Wortes. Wenn ich Juliane bewunderte und ihren Wert erkannte, wenn sie mir Freundin war, und ich ihr wichtig genug, daß ich ihr Dasein erhöhen konnte, – was hatte das mit der Leidenschaft, mit dem Ringen nach ihrem Besitz zu tun? Von dieser Überzeugung war ich jetzt durchdrungen und dieses Gefühl tat mir wohl. Wie anders aber war es mit ihr! Wenden sich die Verhältnisse so, so werden in der Regel dann die Frauen in das verzehrende Feuer der Leidenschaft treten. Welche Briefe erhielt ich von ihr, nachdem ich ihr meinen Entschluß und den Rat, sich der Notwendigkeit zu fügen, mitgeteilt hatte! Ich sagte ihr fast nur dieselben Sachen, die ich früher, als mein Ungestüm in sie drang, aus ihrem schönen Munde gehört hatte. Aber ihr Ohr war jetzt ein anderes als damals. Taub jedem Rat, gefühllos jeder Freundlichkeit, unzugänglich jeder Überzeugung, hörte sie nur die wilden Eingebungen ihrer Leidenschaft. Meine Vernunft schien ihr Feigheit, meine Resignation nannte sie Niederträchtigkeit. Sie, einzig und allein, sie sollte bei dieser Frage, die jetzt in meinem Herzen war erörtert worden, berücksichtigt werden. Kurz, sie spielte jetzt dieselbe Rolle, die ich ihr früher dargestellt hatte. Da ich auf mein Betragen später mit Reue und Beschämung blickte, so glaubte ich, durch ruhiges Beharren sie auf denselben Punkt allgemach führen zu können. Aber meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Seltsam, daß ich jetzt deshalb geängstigt war, weil ich das im übervollen Maß besaß, was ich ehemals für mein höchstes Glück gehalten hätte: und daß sich jetzt mein innigster Wunsch nur erstreckte, sie zur Ruhe, ja Kälte und Gleichgültigkeit zurückführen zu können. So wunderlich behandeln uns oftmals die Götter in Austeilung ihrer Gaben. Meine Briefe verletzten sie, so sah ich aus ihren Antworten, immer tiefer. So kam es denn, daß ich selbst wünschen mußte, wieder einmal eine vertraute Unterredung mit ihr in einsamer Abend- oder Nachtstunde haben zu können, deren mir ehemals so viele zuteil geworden waren. Es gelang durch Bestechung, Bitte, Erniedrigung. Aber, o Himmel! wie war diese Juliane eine andere als jene, die mich ehemals entzückt und begeistert hatte! Sie glich in ihrem Schmerz, verletztem Gefühl und beleidigtem Stolz einer rasenden Bacchantin. Ich sagte mir, so wie ich zu ihr trat: Zu diesem Bilde also hat sie deine Liebe, Eitelkeit und Redekunst erniedrigt! O ihr Männer, die ihr durch eure Kraft diese weichen Wesen zu Engeln erheben oder zu wildsinnigen Trunkenen verwandeln könnt! Doch diese Betrachtungen kamen zu spät. Waren ihre Briefe schon leidenschaftlich gewesen, so waren die Reden ihres Mundes noch viel ungestümer und stürmischer. Nur meine Liebe, nichts weiter in der ganzen weiten Welt verlangte sie. Für sie gab es keine Rücksichten mehr. Flucht in die Welt hinein, Verletzung ihres Rufs, Kränkung des Vaters und ihres Hauses, alles war ihr jetzt recht und erwünscht. Ich erschrak vor diesem Taumel, der keine Scheu mehr anerkennen wollte. Je milder ich war, je mehr ich ihr die unabweisliche Notwendigkeit deutlich machen wollte, um so wahnsinniger ward ihre Rede und Gebärde. Gleich wollte sie mit mir entfliehn. Es bedurfte nur, das fühlte ich, des ausgesprochenen Wunsches, so ergab sie sich mir in diesem Taumel ganz und unbedingt. Ich war im tiefsten Herzen elend, ja vernichtet in allen meinen Kräften.
Ich erfuhr, daß der Fürst nur in Andeutungen mit ihr gesprochen hatte: das Wichtigste wußte sie nur aus meinen Briefen. Sie schalt auf mich, ihren Vater und das Schicksal, und erst, als sie einen Strom von Tränen vergossen hatte, war sie etwas mehr beruhigt. Ich mußte ihr versprechen, nach einigen Tagen wiederzukommen, um dann die Mittel zu unserer Flucht verabreden zu können. Also war es nun so weit gekommen, daß ich mich vor dieser angebeteten Juliane fürchten, ja daß ich sie verachten mußte. Und doch war sie dieselbe, und nur diese unselige Leidenschaft, die ich aus meinem Herzen in das ihrige gegossen hatte, machte sie zu diesem furchtbaren Wahnbilde. Ich zitterte, sie wieder zu sehen. Ich wußte nicht mehr, welche Worte ich ihr sagen, welchen Aufschub, oder welche Entschuldigung ich ersinnen sollte. Einige Wochen vergingen so, in denen wir nur Briefe wechselten. Um zu endigen: ich ging wieder zu ihr. Sie schien mir krank, aber noch in derselben Aufregung, die keine vernünftigen Gründe zulassen wollte. Sie hatte einen Wagen besorgt, ihre Juwelen verpackt, an der Grenze Anstalten getroffen, Pässe angeschafft, Beschützer in fernen Gegenden in Anspruch genommen, kurz alles getan, was der Wahnsinn einer unbegrenzten Liebe nur immer unternehmen mag. Ich behandelte sie als Kranke, die um sich nicht weiß, und gab ihr in allen Ausschweifungen recht und lobte alle ihre höchst wunderlichen Pläne. So glaubte sie dann mit mir einig zu sein, und in acht Tagen, während einer glänzenden Maskerade, indem alle Menschen beschäftigt und zugleich unkenntlich waren, wollten wir entfliehn. Ich bewilligte alles, um sie nur für den Augenblick zu beruhigen, nahm mir aber im stillen vor, den Hof und die Stadt zu verlassen. Indem wir noch so unsere höchst vernünftigen Projekte verhandelten, gewahrte ich plötzlich den Fürsten hinter mir, der schon eine geraume Zeit unserer Unterredung zugehört hatte. Die Szene, welche nun vorfiel, mag ich nicht beschreiben. Des Vaters Zorn überstieg alle Grenzen, weil er mich wortbrüchig vorfand und der Überzeugung war, ich sei ganz mit dem wilden Plane seiner Tochter einverstanden. Sie warf sich zu seinen Füßen; ganz dem früheren schönen Bilde unähnlich, war sie, wie von Federn eine mechanische Figur in gewaltsame Bewegung gesetzt wird, eine Gestalt, deren Leben sich nur in den krampfhaftesten Gebärden kund tut. Es ist zu verwundern, daß man manche Momente überlebt. – Ich ward verbannt, mußte in die Einsamkeit entfliehn und hörte lange nichts von der Stadt und den dortigen Begebenheiten, weil ich alle Menschen vermied. Als ich wieder zur Besinnung kam und den Anblick von Freunden ertragen konnte, vernahm ich denn, daß sie an einer unheilbaren Krankheit leide und von ihren Ärzten schon aufgegeben sei. Wie wunderlich spielt das Schicksal mit dem Menschen und allen menschlichen Absichten. In dieser höchsten Not, so sagte man mir, hätte mir der Vater gern seine Tochter gegeben, wenn er dadurch sein geliebtes Kind nur hätte retten können. Er wollte sich über die Meinung der Welt und über die Einrede seiner Familie hinwegsetzen, wenn ihm durch diesen festen Entschluß seine Juliane nur könne gerettet werden, durch deren Krankheit er erst erfahren hatte, wie er sie liebe, wie sie mit seinem Herzen verwachsen sei. – Alles war umsonst, sie starb in Schmerzen und nach mir rufend, und der trostlose Vater rief mir seine Flüche nach, die mich auch einholen werden, o ja, so wie ihre Verwünschungen.
– So ungefähr äußerte sich damals die Leidenschaft meines unglücklichen Freundes. Er erzählte mir noch zum Beschluß, daß sein ganzes Vermögen verlorengehe, wenn sich nicht ein Dokument vorfände, das er schon seit langem suche, aber nirgends, in keinem seiner Schränke entdecken könne.
Es gibt Leiden, bei denen es töricht ist, nur den Versuch zu machen, um Trost einzusprechen. Solche Schmerzen müssen sich selbst durchleben, sie gehören zum Menschen, und wer ihnen nicht erliegt, wer sie übersteht, wird späterhin einsehen, daß diese hohe Schule durchzuarbeiten zu seinem Heile notwendig war.
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