»Der Name fällt heute nicht mehr oft«, erläuterte Hodge.
»Die Existenz dieser Gruppe ist für den Rat noch immer beschämend und die meisten Dokumente, die den Kreis betreffen, wurden inzwischen vernichtet.«
»Warum besitzt du dann eine Abschrift des Treueschwurs?«, fragte Jace.
Hodge zögerte – nur einen kurzen Moment, aber Clary sah es und wurde von einer unerklärlichen dunklen Vorahnung ergriffen. »Weil ich daran mitgearbeitet habe, diesen Schwur zu verfassen«, erklärte er schließlich.
Jace schaute auf. »Du hast dem Kreis angehört?«
»Ja. Viele von uns haben dem Kreis angehört.« Hodge blickte starr geradeaus. »Clarys Mutter auch.«
Clary wich zurück, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst.
»Was?«
»Ich sagte …«
»Ich weiß, was Sie gesagt haben! Meine Mutter hätte so einem Kreis niemals angehört. So einer … einer Hassgruppierung.«
»Es war keine …«, setzte Jace an, doch Hodge unterbrach ihn.
»Ich bezweifle«, sagte er leise, als schmerzten ihn die Worte, »dass sie eine Wahl hatte.«
Clary sprang auf. »Wovon reden Sie? Warum sollte sie die nicht gehabt haben?«
»Sie hatte keine Wahl, weil sie Valentins Frau war.«
II
Leicht ist Der Abstieg
Facilis descensus Averni:
Noctes atque dies patet atri ianua Ditis. Sed gradium revocare superasque evadere ad auras; Hoc opus, hic labor, est.
Der Abstieg zur Hölle ist leicht:
Tag und Nacht steht offen das Tor zum finsteren Pluto. Aber den Schritt zurück zu den himmlischen Lüften zu wenden, Das ist die schwierigste Kunst.
VERGIL,
Aeneis [3] Übers. J. Götte.
Einen Moment herrschte ungläubiges Schweigen, dann begannen Clary und Jace durcheinanderzureden.
»Valentin hatte eine Frau? Er war verheiratet? Ich dachte …«
»Das ist unmöglich! Meine Mutter würde nie … Sie war nur ein einziges Mal verheiratet, und zwar mit meinem Vater. Sie hatte keinen Exmann!«
Hodge hob abwehrend die Hände. »Kinder …«
»Ich bin kein Kind.« Clary wandte sich vom Tisch ab. »Und ich will nichts mehr hören.«
»Clary«, sagte Hodge. Die Freundlichkeit in seiner Stimme schmerzte sie. Langsam drehte sie sich um und schaute ihn an. Wie seltsam es doch war, dachte sie, dass er mit seinen grauen Haaren und seinem vernarbten Gesicht so viel älter wirkte als ihre Mutter. Und doch waren sie damals beide »junge Leute« gewesen, waren gemeinsam dem Kreis beigetreten und hatten beide Valentin gekannt. »Meine Mutter hätte niemals …«, setzte sie an, verstummte dann aber. Sie war sich nicht mehr sicher, wie gut sie Jocelyn wirklich kannte. Ihre Mutter war für sie zu einer Fremden geworden, einer Lügnerin, die Geheimnisse vor ihr verborgen hatte. Was hätte sie niemals getan? , fragte Clary sich.
»Deine Mutter hat den Kreis verlassen«, sagte Hodge. Er trat nicht auf sie zu, sondern beobachtete sie ruhig mit den wachen Augen eines Vogels von der anderen Seite des Raums aus. »Als wir erkannten, welch extreme Ansichten Valentin entwickelt hatte, als wir begriffen, wozu er bereit war, traten viele von uns aus. Lucian war der Erste. Das war ein schwerer Schlag für Valentin, denn die beiden standen sich sehr nahe.« Hodge schüttelte den Kopf. »Dann ging Michael Wayland. Dein Vater, Jace.«
Jace zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Und dann gab es noch diejenigen, die loyal blieben. Pangborn. Blackwell. Die Lightwoods …«
»Die Lightwoods? Du meinst Robert und Maryse?« Jace sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Was ist mit dir? Wann bist du ausgetreten?«
»Gar nicht«, antwortete Hodge leise. »Ebenso wenig wie Robert und Maryse. Wir hatten Angst … Angst vor dem, was Valentin vielleicht tun würde. Nach dem Aufstand flohen die Loyalisten, wie Blackwell und Pangborn. Wir blieben und kooperierten mit dem Rat. Wir gaben ihnen Namen und halfen, diejenigen aufzuspüren, die geflohen waren. Dafür wurde uns eine mildere Strafe zuteil.«
»Milder?« Nur für einen Bruchteil blitzte in Jace’ Blick etwas auf, doch Hodge bemerkte es.
»Du denkst an den Fluch, der mich hier festhält, nicht wahr? Du hast immer geglaubt, es sei der Rachebann eines wütenden Dämons oder Hexenmeisters. Ich ließ dich in dem Glauben. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Der Fluch, der mich bindet, wurde vom Rat ausgesprochen.«
»Dafür, dass du dem Kreis angehört hast?«, fragte Jace, die Augen vor Verblüffung weit aufgerissen.
»Dafür, dass ich ihn nicht vor dem Aufstand verlassen habe.«
»Aber die Lightwoods wurden nicht bestraft«, warf Clary ein. »Warum nicht? Sie haben schließlich das Gleiche getan wie Sie.«
»In ihrem Fall gab es mildernde Umstände: Sie waren verheiratet und hatten ein Kind. Aber es ist keineswegs so, dass sie aus freien Stücken an diesem abgelegenen Ort, fern der Heimat wohnen. Wir wurden hierher verbannt, wir drei – wir vier, sollte ich wohl sagen: Alec war noch ein Säugling, als wir die Gläserne Stadt verließen. Die Lightwoods dürfen ausschließlich in offiziellen Angelegenheiten nach Idris zurückkehren und auch das nur für kurze Zeit. Ich dagegen bin auf immer verbannt. Ich werde die Gläserne Stadt nie wiedersehen.«
Jace starrte seinen Lehrer an, als sähe er ihn mit neuen Augen, dachte Clary – doch es war nicht Jace, der sich verändert hatte. »Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz«, sagte er schließlich.
»Das habe ich dir beigebracht«, entgegnete Hodge versonnen. »Und jetzt erinnerst du mich an meine eigenen Lektionen. Recht so.« Er sah aus, als wolle er sich auf einen Stuhl sinken lassen, der in der Nähe stand, hielt sich aber aufrecht. Seine starre Haltung ließ etwas von dem Krieger erkennen, der er einst gewesen sein musste, dachte Clary.
»Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?«, fragte sie. »Dass meine Mutter mit Valentin verheiratet war. Sie kannten ihren Namen …«
»Ich kannte sie als Jocelyn Fairchild, nicht als Jocelyn Fray«, erklärte Hodge. »Und da du so darauf beharrt hast, dass sie nichts von der Verborgenen Welt gewusst haben kann, war ich überzeugt, es könne nicht die Jocelyn sein, die ich kannte – und vielleicht wollte ich es auch nicht glauben. Niemand wünscht sich, dass Valentin zurückkehrt.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Als ich heute Morgen nach den Stillen Brüdern in der Stadt der Gebeine schickte, hatte ich keine Ahnung, welche Nachrichten wir für sie haben würden. Wenn der Rat herausfindet, dass Valentin möglicherweise zurückgekehrt ist und dass er den Kelch sucht, dann wird es einen Aufruhr geben. Ich kann nur hoffen, dass das Abkommen dadurch nicht beeinträchtigt wird.«
»Ich wette, das würde Valentin gefallen«, sagte Jace. »Aber warum will er den Kelch unbedingt haben?«
Hodges Gesicht war grau. »Ist das denn nicht offensichtlich? Damit er eine eigene Armee aufstellen kann.«
Jace schaute verblüfft. »Aber das würde nie …«
»Abendessen!« Isabelle stand in der Tür zur Bibliothek. Sie hielt noch immer den Kochlöffel in der Hand, aber ihre Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen ihr über Schultern und Rücken. »Entschuldigt, wenn ich euch unterbrochen habe«, sagte sie nachträglich.
»Gütiger Gott«, sagte Jace, »die Stunde der Prüfungen naht.«
Hodge schaute erschrocken. »Ich … ich hatte ein sehr reichhaltiges Frühstück«, stammelte er. »Ich meine Mittagessen. Ein reichhaltiges Mittagessen. Ich kann unmöglich etwas essen …«
»Ich habe die Suppe weggeschüttet und beim Chinesen in der Stadt etwas bestellt.«
Jace stand vom Schreibtisch auf und streckte sich. »Toll. Ich bin am Verhungern.«
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