Innerhalb von Wochen war der Krieg gewonnen worden.
Die Vampire überall auf der Welt waren tot.
Blade drehte sich in die Richtung, aus der die Brise kam, und genoss das Gefühl. Seine Erinnerung an den Kampf mit Drake war recht verschwommen, aber die letzten Worte, die der Vampir an ihn gerichtet hatte, hatte er nicht vergessen. Drake wusste, dass die Behörden niemals aufgehört hätten, den Daywalker zu jagen, bis sie ihn endlich gefunden hatten – so wie die Jäger nie ihre Suche nach Dracula aufgegeben hatten. Als er erkannte, dass sein eigenes Volk dem Untergang geweiht war, da hatte Drake beschlossen, Blade ein Geschenk zu machen.
Freiheit.
Und mit der Freiheit eine zweite Chance im Leben.
Blade schloss die Augen und badete sein Gesicht im Schein der Sonne, die seine Augenlider angenehm rot leuchten ließ. Er lauschte auf die Geräusche ringsum – das Tosen der See, die Möwen, die hoch über ihm kreischend umherflogen, das Dröhnen eines Passagierflugzeugs, das in der Ferne vorbeizog.
Heute war ein besonderer Tag für ihn, auch wenn es in den Wochen, in denen er sich von seinen Verletzungen erholt hatte, viele wichtige Tage gegeben hatte. Doch heute Morgen war Blade zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ohne seine Schutzkleidung aus dem Haus gegangen. Er stand völlig ohne Schutz auf der Klippe und genoss das Gefühl von Freiheit. Seine markante Sonnenbrille hatte er nicht aufgesetzt, und er trug auch nicht den Ledermantel, die schwarzen Stiefel oder den Waffengurt. Nichts davon benötigte er jetzt noch. Er kam sich sonderbar nackt vor, die Leichtigkeit seines Körpers ließ ihn fast übermütig werden, da er nicht länger von den Elementen abgeschirmt war. Er trug ein T-Shirt aus Baumwolle und dazu legere Kleidung, am Hosenbund steckte ein Mobiltelefon anstelle der bis dahin gewohnten Mach-Pistolen. Auf einen zufälligen Passanten wirkte Blade so wie jeder andere Spaziergänger, der am Morgen den Ausblick an der Küste genoss, ehe die Touristenströme einsetzten. Nur eines unterschied ihn von allen anderen: das Schwert. Blade hob es an und hielt es vor sich, um zu bewundern, wie das Heft das Licht funkelnd reflektierte. Es war tatsächlich ein Kunstwerk. Die gehärtete Klinge leuchtete im Sonnenschein silbern und ging fließend in das stabile, spitz auslaufende Heft über. Das kreisrunde Blatt war von jahrelangem, massivem Einsatz leicht geschwärzt, hatte er damit doch unentwegt Knochen, Fleisch und Sehnen durchtrennt, Schädel vom Rumpf geschnitten und Gliedmaßen von brennenden Leichen abgeschlagen.
Blade blinzelte und rieb sich mit der bloßen Hand die Augen, wodurch Nachbilder der Sonne innen auf seinen Augenlidern tanzten. Tausend Erinnerungen waren mit dieser Waffe verbunden, tausend Erinnerungen, die er nicht mehr brauchte, die er nicht mehr wollte. Dennoch würde ihm das Schwert sehr fehlen.
Unter ihm schlug die Brandung an die Felsen. Das Wasser hatte einen leuchtenden Türkiston.
Blade fuhr mit dem Ärmel über die Klinge und polierte das Heft auf Hochglanz, als wolle er seine Fingerabdrücke abwischen. Mit einem letzten komplizierten Schwung erschreckte er eine Amsel in einem Busch gleich neben ihm und teilte die Sonnenstrahlen, die auf das Metall fielen.
Blade drehte sich um sich selbst und schleuderte das Schwert mit aller Kraft hinaus aufs Wasser. Während es immer wieder um seine eigene Achse wirbelte, reflektierte es funkelnd den morgendlichen Sonnenschein. Dann traf es mit einem lauten Klatschen auf dem Wasser auf und versank schnell in den klaren Tiefen des Ozeans.
Blade wandte sich ab und ging fort, auf dem Weg, eine Legende zu werden.
Die Nacht war eben angebrochen, als Abigail ihren umgebauten Land Cruiser im Industriebezirk der Stadt am Straßenrand abstellte. Laute Musik dröhnte durch die verrauchte Nachtluft, während sie über den Fußweg zu einer Bar namens ZUM GESCHLACHTETEN LAMM ging, einem Punkclub, der in eine freie Ecke im Schlachthofviertel gequetscht worden war.
Draußen wartete ein bulliger Türsteher, der sich die Ausweise der potentiellen Gäste ansah. Der Mann hieß Lucius, und bislang war es bereits ein sehr sonderbarer Abend gewesen. Hillbilly-Trashmetal dröhnte durch die geschlossene Holztür und zwar so laut, dass die Öllachen auf der Straße in Bewegung gerieten.
Abigail ging geradewegs auf den Türsteher zu. King tauchte grinsend an ihrer Seite auf. Beide waren sie schwer bewaffnet, und sie trugen verstärktes schwarzes Leder. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie es ernst meinten, und es war ihnen auch egal, wer davon Notiz nahm. Einige Kunden, die vor dem Club warteten, blickten beunruhigt in ihre Richtung, und im Nu hatte sich die Schlange aufgelöst und war in der Nacht untergetaucht. Abigail sah, dass der Türsteher sie erkannte und erschrak, was sie mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Sie sah zu, wie King sich lächelnd vor den Türsteher stellte und ihn freundlich ansprach. „Guten Abend, Lucius.“
Lucius schluckte, die Augen waren vor Schreck aufgerissen, als er die vierläufige Schrotflinte in der Armbeuge seines Gegenübers sah. „King. Was zum Teufel treibst du denn hier?“
King blickte zu Abigail, die sich von ihm löste und scheinbar völlig ohne Hintergedanken in die schmale Gasse gleich neben dem Club spazierte. King hielt die Eingangstür im Auge. „Ich bin nur ein bisschen auf der Jagd…“
Zehn Sekunden später waren sie beide im Club, einem muffigen Lokal, in dem Musik so laut aus den anderthalb Meter hohen Boxen schallte, dass sie einen fortzureißen drohte wie ein ausgewachsener Tsunami. Die Säufer an der Bar klimperten passend zur Musik mit ihren Flaschen und Gläsern und lieferten ihre eigene akustische Version des Songs. Auf der Bühne stand eine rau aussehende Band, die eine Coverversion von „Little Red Riding Hood“ von Sam and the Shams in die Mikrofone brüllte.
Lucius wurde von King mitgeschleift, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Der Türsteher schwitzte, im düsteren Licht blitzte das Weiß seiner Augen auf, da er immer wieder nervöse Blick in Richtung Barkeeper warf. „Es gibt keine Vampire mehr, King. Wen willst du jagen?“
King blieb an der Theke stehen und überlegte. „Eine interessante Frage, mein Freund. Ich habe für dich auch eine Frage.“
Er bedeutete Lucius, vor ihm her in Richtung der Toiletten zu gehen. Sie waren nicht allzu weit gekommen, als aus dem düsteren Durchgang ein fürchterliches Grollen ertönte, das selbst die dröhnende Musik nicht übertönen konnte.
King hob seine Schrotflinte und warf Lucius einen vorwurfsvollen Blick zu.
Ehe der etwas erwidern konnte, flog die Tür zur Herrentoilette auf und prallte vom Türstopper zurück. Abigail flog kopfüber aus dem Nebenraum und landete auf dem Boden, kam sofort wieder auf die Beine und stieß einen Kamikaze-Schrei aus, während sie unter ihrem Mantel ein langes Messer hervorzog.
King zielte mit der Schrotflinte auf die leere Türöffnung. Auf einmal stürmte eine abscheuliche pelzige Kreatur aus einer der Kabinen. Sie hatte in etwa humanoide Form, war deutlich über zwei Meter groß und von einem dicken, zotteligen Fell überzogen. An ihr hingen die zerfetzten, blutigen Überreste eines Anzugs im Stil der Stray Cats. Das Ding sah nicht so aus, als sei es besonders gut drauf. King legte sein Gewehr an und stieß Lucius an, um dann mit einem Kopfnicken auf das Wesen zu deuten. „Was bekommt man, wenn man einen Vampir mit einem Werwolf kreuzt?“
Als das werwolfähnliche Wesen King reden hörte, zuckte sein wuchtiger Kopf herum und starrte ihn finster an. Im Halbdunkel funkelten seine schwarzen Glubschaugen. Es schnupperte kurz, dann öffnete es das Maul und heulte King mit stinkendem Atem an, während blutiger Sabber von den Zähnen tropfte. King grinste finster: „Einen Pelzmantel, der sich im Hals verbeißt.“
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