Drake wischte sich schwarzen Schleim vom Kinn, während in ihm eine Erkenntnis dämmerte. Blade hatte ihn besiegt. Er würde schließlich doch noch sterben. Er verzog die Mundwinkel, als er über die Ironie des Ganzen nachdachte. Über Jahrtausende hinweg hatten so viele davon geträumt, von diesem Sturz des Tyrannen, der geliebte Menschen getötet, ihre Häuser niedergebrannt und ihr Leben zerstört hatte. Sie waren ihm zu Hunderten gefolgt, doch sie waren alle gescheitert.
Und nun hatte es einer von ihnen geschafft.
Dieser Augenblick sollte von jubelnden Dorfbewohnern gefeiert werden, dachte Drake benommen. Sie sollten Flaggen und Fackeln in die kalte Nachtluft recken. Hunde sollten bellen, Signalhörner über das ganze Land schallen, und die Nachricht musste von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt weiterverbreitet werden.
Dracula war besiegt worden.
Die Welt war gerettet.
Stattdessen war da nur Stille, ab und zu unterbrochen vom leisen Rieseln von Putz, der aus einer der stark beschädigten Wände fiel. Ein schwacher Piepton kam von Grimwoods Uhr. Sie lag irgendwo unter den Trümmern vergraben und ihr Piepsen erinnerte daran, dass Pac Man gefüttert werden musste.
Mühselig drehte sich Drake zu Blade um. Der Daywalker lag in seinem eigenen Blut. Seine Lungen hoben und senkten sich schwerfällig, da sein Körper nicht aufgeben wollte. Drake hörte, wie sein Herzschlag unregelmäßig wurde, als das Blut aus Blades Körper strömte. Der Daywalker hatte die Augen geöffnet, sein leerer Blick war zur Decke gerichtet.
Bald schon würde er tot sein.
Ein Anflug von Neugier ließ bei Drake die Frage aufkommen, ob der Hybride wohl wie ein Vampir in Flammen aufgehen würde oder ob er so sterben würde wie ein Mensch.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Drake machte sich bereit, auf diesen Augenblick zu warten.
Blade starrte zur Decke, seine Augen trübten sich langsam, während er in die schwarzen, schwindelerregenden Gezeiten des Schocks eintauchte. Er sah hilflos zu, wie sein eigenes Blut aus der klaffenden Brustwunde austrat und sich in einer Lache unter seinen Schultern sammelte. Das Blut war warm… so wie ein schönes, warmes Bad. Oh Mann, wie müde er doch war… Blades Körper vibrierte. Er schüttelte die Müdigkeit ab und klammerte sich an sein Bewusstsein. Er wusste, er war schwer verletzt worden, vielleicht zu schwer, um es zu überleben. Aber trotz seiner klaffenden Wunden zeichnete sich auf dem Gesicht des Daywalkers ein flüchtiges, schmerzerfülltes Lächeln ab. Er hatte etwas erreicht, was viel wertvoller war als seine sterbliche Hülle. Es war mehr, als jeder gewöhnliche Mensch je zu erreichen hoffen konnte.
Er hatte Drake besiegt, den ersten, den letzten und vielleicht auch einzigen echten Vampir, den diese Welt jemals gesehen hatte. Hoffentlich hielt King jetzt endlich den Mund.
Minuten verstrichen.
Drake betrachtete den Raum, in dem er sich befand, und ermaß mit einem Anflug von surrealer Befriedigung das Ausmaß der Zerstörung, die er angerichtet hatte. Noch während er sich umsah, fiel eine Lampenfassung von der Decke und landete inmitten der verstreut liegenden Trümmer.
Dunkelheit umspülte Drakes Synapsen, er runzelte die Stirn und blinzelte angestrengt, als vor seinen Augen einen Moment lang nur geflecktes Grau zu sehen war. Er war nicht an körperliche Schwäche gewöhnt, und mit einem Mal machte der uralte Vampir alle möglichen sonderbaren Empfindungen durch, von denen nicht eine als angenehm zu bezeichnen war.
Verwirrt blinzelte er und sah zur Wand unmittelbar vor ihm. Sie schien im Licht kurz vor Sonnenaufgang zu flimmern, als ob die Realität an sich kaum mehr als eine Halluzination war. Auf einmal bildete sich vor seinen Augen ein geisterhaftes Bild, das sich schnell zu einer unglaublich real aussehenden, farbenprächtigen Szene entwickelte.
Drake hielt die Luft an, als sein ganzes Leben in leuchtenden Bildern an der Wand vor ihm vorüberzog, die so klar und lebendig wirkten, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Er betrachtete sie staunend. Er hatte einmal davon gehört, dass im Augenblick des Todes das Leben an einem vorüberzog. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, dass er jemals die Gelegenheit bekommen würde, herauszufinden, ob das stimmte oder nicht, doch jetzt war der Moment gekommen.
Drake lehnte sich erwartungsvoll zurück.
Das würde gut werden. Brennende Dörfer, schreiende Frauen. Der beißende Geruch von Schießpulver in der Luft, wenn seine Feinde aus den Reihen ausbrachen und ihm nachjagten…
Drake lächelte und genoss die Show, die tausend blutige Bilder in seinem Kopf erstehen ließ. Er hatte rücksichtslos gemetzelt, ob jung oder alt, ob krank oder verwundet – alle waren sie durch sein Schwert gefallen. Oder besser gesagt: durch seine Hände und Zähne, da ihr Lebenssaft ihn über all die Jahre hinweg genährt hatte.
Jetzt, da das Ende gekommen war, bereute er nichts.
Er hatte jeden Augenblick genossen.
Durch all den Schmerz und den Tod, den er verursacht hatte, waren die Jäger gekommen, und sie hatten von allen am meisten gelitten. Dafür hatte Drake gesorgt. Er hatte Tausende von ihnen getötet, mit Tausenden von Todesarten. Warum sollte er sie auch nicht für ihre Unverschämtheit bestrafen? Schließlich waren sie doch diejenigen, die in ihrer Arroganz glaubten, sie konnten seinem Leben ein Ende setzen. Sie hatten es verdient, zu leiden. Er sah ihre Gesichter wieder, die anklagend vor ihm auftauchten.
Ein königlicher Wachmann, dessen prachtvolle Uniform blutgetränkt war, der um Gnade flehte, während Drake ihn an seinem Pferd festband, bereit, Tier und Reiter von der Festungsmauer zu werfen.
Ein junger türkischer Soldat, der seine Götter um Vergebung bat, während Drake ein Fass mit siedendem Öl in den Brunnen kippte, in dem sich der Junge versteckt hatte.
Ein spanischer Conquistador, an einen Baum genagelt und mit Tränen in den Augen, als Drake ihn entscheiden ließ, in welcher Reihenfolge er die sieben kleinen Kinder des Mannes töten sollte…
Und nun… Blade. Ein Afroamerikaner, in Leder und Stahl gekleidet, dessen Vampirblut ihn rief, während er mit den Menschen zusammen plante, wie sein eigener erster Urahn am besten getötet werden sollte.
Drake runzelte die Stirn. Das war ein Widerspruch, der kein Zufall sein konnte. Woher war er gekommen, dieser Hybridkrieger? Welche Umstände hatten aus ihm gemacht, was er geworden war? Drake wusste, dass selbst die Menschen Blade als ein Monster, als einen Killer ansahen. Wenn die Behörden jemals hinter sein Geheimnis kamen, würden sie ihn einsperren, vielleicht sogar töten, denn es war eine Laune der Menschheit, das zu vernichten, was man nicht verstand.
Aber es war egal.
Blade hatte geschafft, was jedem vor ihm versagt geblieben war, und er hatte sein Leben für die Menschheit geopfert – eben jene Menschheit, die ihn hasste. Das war eine so bittere Ironie, dass sogar Drake sie respektieren konnte.
Er hustete schwach, aus seinen Wunden rann eine schwarze Flüssigkeit. Ein Teil von ihm – ein sehr kleiner Teil – hatte immer gewusst, irgendwann würde der Tag kommen, an dem er unterliegen musste. Und ein noch kleinerer Teil hatte das sogar gewollt, hatte aus der Finsternis seiner Seele heraus geschrien und gefleht, in den unbekannten Abgrund entlassen zu werden.
Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, dann war es gerade dieses kleine bisschen Finsternis gewesen, das ihn immer unmenschlicher hatte werden lassen. So wie ein verzogenes Kind, dass die Geduld seiner Eltern mit immer unverschämteren Forderungen auf die Probe stellte. Doch irgendwann war der Tag gekommen, da hatte Drake erkennen müssen, dass er die menschliche Rasse noch so schlimm drangsalieren konnte, wie er wollte – sie hatte einfach nicht die Kraft besessen, um sich zu wehren, zumindest nicht auf eine Weise, die ihm wirklich gefährlich hätte werden können.
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