Abigail holte tief Luft, bereit für den nächsten Sprung. Die Blutsauger würden ihr schon eine Kugel in jeden Teil ihres Körpers jagen müssen, wenn sie sie zum Aufgeben zwingen wollten. Es hing einfach zu viel von ihr ab, sie konnte nicht aufgeben, nur um ihr Leben zu retten.
So plötzlich das Feuer auf sie eröffnet worden war, so abrupt stoppte es auch wieder. Sie wagte einen weiteren Blick nach unten und sah, dass die beiden Vampire soeben in einer Explosion aus blauem Licht vergingen. Sie schaute zur Tür und entdeckte… „King!“ Noch nie war sie so froh gewesen, jemanden wiederzusehen. Der Vampirjäger stand oben auf der Empore des Atriums und gab Abigail Feuerschutz, damit sie ihre Mission erfüllen konnte. Ihr Schutzengel. Dann jedoch…
Abigail rief ihm eine Warnung zu, doch es war schon zu spät. Hinter King war ein Schatten aufgetaucht. Danica stand mit einem Mal hinter ihm. Durch das atomisierte Silber, das sie eingeatmet hatte, qualmte ihre Haut.
Mit einem zornigen Knurren bekam sie King zu fassen und rang ihn zu Boden.
King wehrte sich, doch er war zu erschöpft, während sich Danica hatte erholen können und außerdem frisches Blut benötigte. Ein Mensch konnte es selbst unter besten Umständen nicht mit bloßen Händen mit einem Vampir aufnehmen. Nach Kings Gesichtsausdruck zu urteilen, war ihm diese Tatsache nur zu bewusst. Hilflos musste Abigail mit ansehen, wie er sich in ihrem Griff wand und mit der E-Pistole fuchtelte, um auf Danicas Gesicht zielen zu können.
Mit dem Handballen wehrte sie seinen Versuch jedoch ab und bekam den Lauf der Waffe zu fassen, und dann hatte sie sie ihm auch schon abgenommen. In einer raschen Bewegung ließ sie das Magazin herausgleiten, so dass sich Kings Sundog-Kugeln auf dem Boden verteilten, die sie schließlich auch noch wegtrat, damit er keine Chance hatte.
Mit einem höhnischen Grinsen schleuderte sie die nutzlos gewordene Waffe fort und wandte sich King zu. Sie packte den blutbeschmierten Vampirjäger am Kragen, drückte seinen Kopf nach hinten und bleckte ihre Reißzähne…
Abigail hing mehr als zehn Meter über dem Boden in der Luft und versuchte, ihre letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Schweißtropfen brannten ihr in den Augen, als sie nach unten blickte.
Das hätte sie besser nicht getan.
Sie winkelte die Knie an und schwang wie ein Pendel hin und her. Jeder Muskel in ihrem Leib schmerzte. Sie musste es zur anderen Seite schaffen und King retten, ehe Danica ihn ein für allemal zur Hölle schickte.
Abigail hielt inne. Was war mit dem Pfeil? Was, wenn Drake Blade umbrachte und auf Nimmerwiedersehen verschwand?
Sie zögerte und verzog das Gesicht aus Wut über ihre Unentschlossenheit. Ihre Hand begann abzurutschen. Ihr Arm zitterte, weil er ihr ganzes Gewicht tragen musste. Sie gab sich einen Ruck und bekam den nächsten Querbalken zu fassen. Dann hing sie einen Moment lang zwischen beiden Balken, um zu verschnaufen. Dabei stachen sich winzige Metallsplitter durch ihre Lederhandschuhe in die Fingerspitzen, Blut vermischte sich mit Schweiß und machte es ihr noch schwieriger, sich festzuhalten. Ehe sie sich von der Stelle bewegen konnte, peitschte ein weiterer Schuss durch den Raum. Das Geschoss prallte von der Decke ab.
Abigail sah nach unten. Was war nun los?
Sie schrie vor Schmerz auf, als eine zweite Kugel ihre Schulter traf und sie beinahe dazu brachte, einfach loszulassen. Sie fing sich gerade noch und atmete schwer. Die Kugel hatte ihre Schulter zum Glück nur gestreift, dennoch ging eine Schockwelle durch ihren Arm, der ihre Hand sofort taub werden ließ. Sie biss die Zähne zusammen, so fest sie nur konnte, und schaffte es, mit der anderen Hand den nächsten Querträger zu fassen zu bekommen. Schweißgebadet wagte sie einen Blick nach unten.
Asher stand dort drüben und hatte ein altmodisches Gewehr auf sie gerichtet. Hilflos sah sie mit an, wie er sorgfältig zielte und darauf achtete, dass sie genau in seinem Fadenkreuz auftauchte. Da sie immer noch leicht hin und her schaukelte, bewegte er den Lauf ein wenig zur Seite, um sich auf ihre Vorwärtsbewegung einzustellen.
Dann drückte er ab.
Hinter ihr ging King zu Boden, als Danica ihn mit einer ganzen Salve von Haken traktierte. Ihren ersten Angriff hatte er noch mit einer gezielten Kopfnuss abwehren können, der mit einem Aufschrei und einem Knacken belohnt worden war, das sich nach einem gebrochenen Knochen angehört hatte. Nun aber hatte sie ihn am Hals gepackt und prügelte ihn grün und blau.
King rollte sich auf den Rücken, wischte sich mit einer Hand über sein angeschwollenes Gesicht und spuckte einen Splitter aus, der von einem seiner Zähne stammte. Die Lichter über ihm schienen sich zu drehen, als er versuchte, sich auf Danica zu konzentrieren. Sie ragte hoch über ihm auf und krempelte die Ärmel hoch, als würde sie jetzt erst richtig anfangen.
Er stöhnte auf und kam auf die Beine, wobei er wie ein Betrunkener schwankte. „Nimm’s nicht persönlich, Danica, aber ich wollte dich schon töten, nachdem ich mit dir geschlafen hatte.“
Danica hob eine Augenbraue. „War ich so schlecht?“
King täuschte einen plumpen Haken an, dem sie nach hinten auswich, und hob seine Waffe vom Boden auf. Er zielte auf sie, doch Danica begann zu lachen.
„Keine Munition mehr, King.“
Er lächelte breit, wenn auch blutverschmiert. Dann deaktivierte er die magnetische Sicherung, drückte den Rücken durch und sah Danica mit hasserfüllten Augen an. „Stimmt, aber das ist nicht so schlimm. Diese Babys lassen sich fernzünden.“
Bevor Danica sich rühren konnte, hatte King bereits den Abzug durchgezogen.
Mit einem leisen Klick und einem Aufheulen wurden die Sundog-Kugeln aktiviert. Binnen Sekunden glühten sie grellweiß. Und dann explodierten sie.
Ein gleißender blauer Blitz aus UV-Licht ließ Danica kreischend die Hände hochreißen, um ihre Gesicht vor dem tödlichen Leuchten zu schützen, doch sie war nicht schnell genug. Der Gestank von brennendem Fleisch breitete sich aus, während Danica vor Erstaunen und Schmerz aufschrie. Mit qualmendem Gesicht wandte sie sich ab und stolperte durch eine Tür davon.
King ließ sie entkommen. Dass sie sterben musste, wa ihm klar. Aber nicht so leicht. Er wollte, dass sie erst noch litt. Er zog seine letzte Sundog-Kugel aus dem Magazin, machte sie mit einem Fingerschnippen scharf, dann schob er sie in die Pistole.
Um das Miststück würde er sich später kümmern, diese letzte Kugel war dagegen für ihren elenden Bruder bestimmt.
King kroch ein Stück nach vorn und hielt sich mit einer blutigen Hand am Metallgeländer fest, damit er auf Asher zielen konnte, der auf der anderen Seite des Raumes stand und mit seinem Gewehr auf Abigail zielte. Ohne zu zögern drückte King ab.
Die Sundog pfiff durch das Atrium und traf Asher genau in den geöffneten Mund. Der Einschlag der Kugel riss ihn mit und schleuderte ihn ein Stück weit nach hinten. Er ließ sein Gewehr fallen und griff hektisch nach seinem Mund, während ein dünnes Blutrinnsal zwischen seinen Lippen hervortrat.
Dann explodierte die Kugel. Grelles blaues Licht leuchtete aus Mund und Augenhöhlen, als Ashers Kopf von tödlichem UV-Licht erfüllt wurde. Er kippte schreiend und zuckend vornüber, als sein Kopf in sich zusammenfiel und dann in einem kleinen Feuerball explodierte. Sein kopfloser Rumpf fiel weiter nach vorn und stürzte über das Geländer. Während er nach unten stürzte, ging sein ganzer Körper in Flammen auf.
Erleichtert sank King auf die Knie.
Sein Job war erledigt.
Der Krieg war aber noch nicht vorüber. Unten im Atrium war Blade dem Tode nah. Allen Anstrengungen des Daywalkers zum Trotz schleuderte Drake ihn umher, als sei er eine große Puppe.
Blade segelte durch die Luft, schlug sich den Kopf an der Metallkante der Empore auf und stürzte dann gut zehn Meter in die Tiefe. Seine Sinne rasten, als die Schockwelle des Aufpralls sich durch seine Wirbelsäule fortpflanzte. Jede Zelle seines Körpers schien von ihrem angestammten Platz fortgezerrt worden zu sein, er war zu Tode erschöpft und konnte kaum noch klar denken – und doch wusste er, dass er sich weiter bewegen musste.
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