Jetzt oder nie.
Mit einem gellenden Aufschrei drückte King den Hund von sich fort und packte seine Pistole. Seine Finger schlossen sich um den Griff, während er sich auf Rücken rollte. Der Hund landete wieder auf ihm, doch diesmal drückte er ihm die Pistole ins Fell.
Er betätigte den Abzug, und im nächsten Moment verwandelte eine Explosion den Hund in einen Ascheregen.
Während sich der Staub legte, öffnete King die Augen und spuckte ein Büschel verbrannter Hundehaare aus. Kopfschüttelnd setzte er sich auf.
„Böser Hund.“
Einige Etagen tiefer schlich sich Abigail auf die obere Ebene des Atriums. Zoe klammerte sich so sehr an ihrer Hand fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, während sie lauschten, welche Geräusche von unten kamen.
Abigail sah sich um und suchte nach einem sicheren Versteck für das Mädchen. Sie entschied sich für eine tief in die Wand eingelassene Nische und bedeutete Zoe, sich dort zu verstecken. Die Kleine zog sich in den Schatten zurück. Abigail beugte sich zu ihr vor, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte sie aufmunternd an. Dann zog sie vorsichtshalber aus ihrem Gürtel einen Silberpflock und drückte ihn Zoe in die Hand.
Sie eilte zum Geländer der oberen Ebene. Die Ruhe, die sie eben noch dem Kind gegenüber ausgestrahlt hatte, war verschwunden.
Unten kämpften Blade und Drake wie zwei lebendige Tornados, zerschlugen das Mobiliar und rissen Löcher in die Wände. Abigail sah, dass sich Drake in Blades Schulter verbissen hatte. Die beiden attackierten sich wie zwei Kampfhunde, von denen der eine verzweifelt versuchte, von dem anderen freizukommen. Das Gesicht des Daywalkers war von Schmerz gezeichnet. Blut lief in breiten Strömen von seiner Schulter herab.
Abigail stockte der Atem. Jetzt hatte sie ihre Chance. Drake war damit beschäftigt, mit Blade zu kämpfen. Er hatte noch nicht bemerkt, dass sie sich mit ihnen im Raum befand. Vermutlich würde sie eine so gute Gelegenheit nicht wieder bekommen.
Sie bewegte sich hin und her, um einen guten Abschusspunkt zu finden, gleichzeitig zog sie den Pfeil mit der Ampulle aus der Kühlkapsel und legte ihn mit zitternden Fingern an. Gegen die kalte Steinsäule gedrückt, versuchte sie, ihr Ziel zu erfassen. Sie richtete das Visier auf Drakes Schulter aus und zog die Sehne zurück, während sie den Atem anhielt.
Der Augenblick war gekommen.
Doch in dem Moment wirbelte Blade herum, presste seinen Arm um Drakes Schultern und nahm ihr damit die Sicht. Verärgert verlagerte Abigail ihre Position und versuchte es noch mal, zielte nun aber auf Drakes ungeschützten Oberschenkel.
Doch wieder kam ihr Blade in den Weg.
So ging es einfach nicht. Die beiden Titanen bewegten sich viel zu schnell, als dass Abigail sicher ihr Ziel hätte treffen können. Sie hatte keine freie Schussbahn, und sie konnte es auch nicht riskieren, Blade zu treffen.
Sie musste irgendeinen anderen Weg finden, und zwar schnell, da Blade anscheinend nicht mehr lange durchhielt.
Blade hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Abigail in der Nähe war. Er kämpfte unverdrossen mit Drake, doch es wollte ihm nicht gelingen, seine Schulter aus den Fängen des Vampirs zu befreien. Drake knurrte, Blut sprudelte zwischen den Lippen hervor, während er seine langen Reißzähne tiefer in Blades Fleisch bohrte und sich in die Sehnen seiner Schulter verbiss. Je mehr Blade versuchte, sich von ihm zu befreien, desto fester biss Drake zu.
Keuchend griff Blade nach seinem Waffengurt und schaffte es, einen Pflock herauszuziehen. Er zog seine Schulter zurück und rammte den Pflock mit aller Kraft in Drakes ungeschützten Gehörgang. Der Vampir stieß einen gellenden Schrei aus und ließ Blade los, der sich zur Seite rollte und eine Hand auf seine Schulter presste, um die Blutung zu stoppen. Verzweifelt sah er sich im Zimmer um. Würde er doch nur an sein Schwert herankommen können…
Drake zog jaulend den Pflock aus seinem Kopf und schleuderte ihn wutentbrannt gegen die Wand. Sofort stürmte er wieder auf Blade zu und hob die Fäuste, um mit den Panzerhandschuhen den Kopf seines Widersachers zu zerschmettern.
Irgendwie gelang es Blade, sich zu ducken, so dass Drake nur einen Teil der Wand einriss und dabei ein Heizungsrohr beschädigte. Eine dichte Wolke kochenden Wasserdampfes trat mit hohem Druck zischend aus der Wand aus. Mit einem kehligen Wutgebrüll griff Drake in das Loch in der Wand und zerrte mühelos ein Rohrstück von gut zweieinhalb Metern Länge heraus.
Ehe Blade Zeit fand, sich aus dem Weg zu rollen, nahm Drake bereits mit seinem provisorischen Knüppel Maß und traf den Brustkorb des Daywalkers mit voller Wucht. Drake holte aus und attackierte erneut. Blade konnte sich nur mit knapper Not retten, weil Drake ihn verfehlte und stattdessen ein Loch in den Boden schlug. Wie ein Berserker versuchte der Vampir wieder, Blade zu treffen, aber der wich ein ums andere Mal aus, so dass nach und nach auch die restliche noch intakte Einrichtung vernichtet wurde.
Abigail rannte auf der Galerie hin und her, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wie sie sicher den Pfeil abfeuern konnte. Der Raum war erfüllt vom Lärm der Zerstörung, die Drake anrichtete, indem er immer wieder nach Blade schlug, dabei aber nur Glas und Stahl zertrümmerte. Das Atrium war längst nur noch ein Trümmerfeld, das völlig von der Asche der abgeschlachteten Vampire überzogen war.
Selbst Abigail erkannte, dass der Daywalker allmählich mit seinen Kräften am Ende war. Sie sah, dass seine Versuche, Drake auszuweichen, durch Blutverlust und Erschöpfung immer schwerfälliger wurden. Gegen das schwere Metallrohr war sein Schwert nutzlos, dennoch machte er weiter und wich Drake hartnäckig aus, der immer wütender wurde. Als er Blade zum zehnten Mal in Folge verpasste, stieß er einen zornigen Schrei aus und fegte aus Frust eine kostbare Marmorstatue von ihrem Podest.
Abigail wusste, dass sie sich beeilen musste. Ein Treffer mit dem Rohr genügte, um Blades Schädel wie eine Eierschale zu zerquetschen.
In einem Anflug von Panik sah Abigail nach oben und bemerkte über sich eine Konstruktion aus Dachbalken, die sich über die gesamte Breite der Atriumdecke erstreckte und an der eine Reihe von Lampen befestigt war. Ihr kam eine Idee. Sie steckte den Pfeil mit der Ampulle zurück in den Köcher und befestigte den Bogen auf dem Rücken. Dann stellte sie sich auf das Geländer, balancierte einen Moment lang höchst bedenklich und überschlug mit geübtem Blick die Distanz.
Dann sprang sie los.
Einen Moment lang war ihr schwindlig, als sie über der Leere schwebte, doch dann bekam sie mit den Fingerspitzen eine der Stellen zu fassen, an denen sich zwei Balken kreuzten. Wie ein Pendel schaukelte sie hin und her, bis sie genug Schwung hatte, um zum nächsten Kreuzungspunkt zu springen. Mit jedem zurückgelegten Meter wurde sie selbstsicherer, bis sie sich so natürlich wie ein Affe zur Mitte des Raums hangeln konnte. Sie gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, dass sich der Boden mindestens zehn Meter unter ihr befand. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den gleichmäßigen Rhythmus ihrer Vorwärtsbewegung.
Es war gar nicht so schwer, sondern erinnerte sie daran, wie sie sich als Kind auf dem Spielplatz von Stange zu Stange gehangelt hatte.
Auf einmal gab es einen Knall, und am Geländer vor ihr flogen Funken. Abigail erschrak so, dass sie fast danebengegriffen hätte. Einen Moment lang schaukelte sie auf der Stelle, sah nach unten und entdeckte zwei Vampirwachen, die mit ihren Pistolen auf sie feuerten. Sie versuchten, sie abstürzen zu lassen.
Sie drehte sich mitten in der Luft, hatte aber keine Chance, den Kugeln auszuweichen, die auf sie abgefeuert wurden.
Sie war völlig ungeschützt. Das andere Ende der Balkenkonstruktion war noch gut zwanzig Meter entfernt. Bis dorthin würde sie es niemals schaffen.
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