Jetzt, rund zwanzig Jahre später, war das ungleiche Duo immer noch zusammen und kämpfte gegen die Geschöpfe der Finsternis, die eine permanente Gefahr für die Menschheit darstellten. Sie wurden für ihre Arbeit nicht bezahlt, niemand wusste zu schätzen, was sie taten. Sie waren die anonymen Helden der Stadt gewesen.
Bis jetzt.
Blade kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Die Schreie in seinem Kopf verstummten sofort und wurden von einer Stille abgelöst, die etwas Drängendes an sich hatte. Blade riss die Augen auf und starrte in die Finsternis, seine gesamte Aufmerksamkeit auf ein winziges Geräusch gerichtet, das gerade noch wahrnehmbar war.
Irgend etwas stimmte nicht.
Blade sprang augenblicklich auf, die Müdigkeit war wie weggewischt. Er griff nach seinem Schwert und huschte nach draußen in die große verlassene Werkstatt. An einem der seitlichen Fenster angekommen, hob er mit der Schwertspitze die Jalousie ein wenig an und lauschte konzentriert. Der Mond stand über dem Wasser. Durch einen Sprung in der Glasscheibe drang der Geruch der See herein.
Alles war ruhig.
Zu ruhig.
Ein leises Geräusch war hinter ihm zu hören, und als er sich umdrehte, sah er Whistler, wie er in einem Schatten verschwand. Er war vollständig angezogen und hielt eine 9-mm-Browning in der Hand.
„Was ist?“ flüsterte er.
Blade sah wieder in Richtung Ozean, tat einen Schritt nach hinten und erhob sein Schwert. Er schluckte, um das Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken, das wie bittere Galle in seiner Kehle aufstieg. „Das, worüber du dir Gedanken gemacht hast.“
Sie standen beide reglos da und horchten, wie die Wellen an Land schlugen und sich wieder zurückzogen.
Sie rollten an Land, sie zogen sich zurück.
An Land und zurück.
An…
In diesem Moment wurde das Fenster eingeschlagen. Glassplitter regneten in den Raum. Blade und Whistler gingen hinter einer Werkbank in Deckung, als zwei schwerbewaffnete SWAT-Agenten in kugelsicherer Kleidung durch die Fensterläden krachten und sich in den Raum fallen ließen. Zwei weitere Männer durchbrachen die Fensterreihen zu beiden Seiten des Hauses und schwangen sich auf Blade und Whistler zu. Sie feuerten Tränengasgranaten ab. Sofort entstand eine Wand aus dichtem grauem Rauch, die das Labor von einer Tür bis zur anderen blockierte.
Die Behörden hatten sie gefunden.
Blade stürmte los, um sich den Eindringlingen in den Weg zu stellen, während er Whistler zurief, er solle sich zurückziehen.
Der alte Mann verschwand in der relativen Sicherheit der Waffenkammer. Im gleichen Augenblick wurde die verstärkte Haustür aufgesprengt und schlug mit einem metallischen Dröhnen auf dem Boden auf. Wie eine dunkle Flutwelle stürmten Agenten in die Werkstatt, die kugelsichere Kleidung und Gasmasken trugen und mit Heckler & Koch-Sturmgewehren vom Typ MP-5 bewaffnet waren.
Einer von ihnen warf eine Blendgranate. Zwar schloss Blade seine Augen, ehe der Blitz den Raum in gleißendes Licht tauchte, doch da er das Schwert in der Hand hielt, konnte er nicht gleichzeitig die Ohren zuhalten. Er stöhnte auf, als sein überempfindliches Gehör vom Explosionsgeräusch getroffen wurde.
Während das Echo der Blendgranate verhallte, ertönte draußen eine Reihe von Detonationen. Blade sah durch das zerschmetterte Fenster ungläubig mit an, wie die Barrikade, die den Zugang zu ihrer Zuflucht vom Ozean her schützen sollte, durch eine Explosion zerstört wurde und ins Wasser stürzte. Ein Militärschlauchboot bahnte sich den Weg an dem einstigen Hindernis vorbei, glitt ein Stück weit die hölzerne Rampe hinauf und kam neben dem Bootshaus zum Stehen. Es war mit weiteren Agenten besetzt, die allesamt schwarze Schutzkleidung trugen und mit Suchscheinwerfern und Gewehren ausgerüstet waren. Sie sprangen aus dem Boot und verteilten sich rasch rund um das Gebäude.
Blade suchte hinter einem Stützpfeiler Schutz. Sein Herz raste wie wild. Das war alles nur seine Schuld. Er war unachtsam gewesen, und nun würde er dafür bezahlen müssen.
Er fluchte lautlos, als er mit ansah, wie die Agenten die Werkstatt auseinandernahmen und bei ihrem Ansturm die empfindlichen Ausrüstungsgegenstände zu Boden rissen.
Als er wieder Glas splittern hörte, zuckte er zusammen. Blade ahnte, dass kein Gerät mehr zu gebrauchen sein würde, wenn die Cops fertig waren. Aus langjähriger Erfahrung wusste er nur zu gut, dass die Polizei noch schlimmer war als die Vampire, wenn es darum ging, Dinge zu zerschlagen.
Er konnte nur hoffen, dass Whistler das Haus versichert hatte…
In der Waffenkammer öffnete Whistler im Halbdunkel seinen hölzernen Munitionsschrank. Ihm blieben nur noch Sekunden, ehe die Agenten das Haus nach ihm absuchen würden. Seine Pistole konnte er nicht benutzen, um sich zur Wehr zu setzen, da er das SWAT-Team damit nur dazu einladen würde, das Feuer zu erwidern. Und angesichts des Interesses der Medien an Blade wären mehrere erschossene Polizisten eine denkbar ungünstige Meldung.
Er musste einen Weg finden, sich mit nicht so todbringenden Mitteln zu verteidigen.
In dem Moment platzte ein schwarzgekleideter Agent in die Waffenkammer, richtete seine Pistole auf Whistler und brüllte: „Auf den Boden! Auf den Boden!“
Der tauchte zur Seite weg und gab zwei Warnschüsse auf den Boden gleich neben dem Agenten ab, dann trat er die Flucht an.
Weitere Agenten folgten und erwiderten das Feuer, so dass Whistler hinter einem Betonpfeiler Schutz suchen musste, als eine Salve auf ihn abgeschossen wurde. Whistler antwortete mit einem Schwenk seiner Waffe, während er sie abfeuerte. Die Agenten wichen zurück und verließen den Raum, worauf Whistler mit Furcht erregendem Gebrüll in Richtung der Computer hechtete.
Sofort wollten die Agenten ihm hinterher stürmen, aber der Anführer der Gruppe gab ein Zeichen, dass sie zurückbleiben sollten. Er holte eine Tränengasgranate aus seinem Rucksack, zog den Stift mit den Zähnen heraus und warf sie Whistler nach.
Sie würden den verrückten alten Kerl einfach ausräuchern.
Mit schussbereiten Waffen stand das SWAT-Team da und wartete.
Ein langer Konvoi aus Polizeiwagen und SWAT-Trucks rumpelte den Feldweg entlang und näherte sich dem Bootshaus mit heulenden Sirenen. Die Türen der Trucks wurden aufgeschoben, eine weitere Welle von FBI-Agenten und Polizisten sprang heraus. Sie luden Sturmgewehre aus und riefen sich gegenseitig per Megaphon Anweisungen zu. Drüben am Dock stiegen die Agenten Cumberland und Haie aus ihrem unscheinbaren Fahrzeug. Sie trugen kugelsichere Westen und hielten Schusswaffen im Anschlag.
Bei diesen Freaks würden sie kein Risiko eingehen.
Cumberland griff nach seinem Funkgerät. „Macht von allen Seiten zu, es darf keiner rauskommen!“
Weitere Polizeiboote näherten sich den Docks und blockierten den Fluss auf voller Breite. Auf dem Dach hatten SWAT-Scharfschützen Stellung bezogen und warteten darauf, dass die Verdächtigen aus dem Gebäude kamen.
Im Bootshaus versuchte Blade mit allen Mitteln, sich den Weg durch die Menge Polizisten freizukämpfen, um zu Whistler zu gelangen. Er wusste, der alte Mann konnte gut auf sich selbst aufpassen, doch Blade war mit einem Mal bewusst geworden, dass er vermutlich bleiben und kämpfen würde. Ein Blick nach draußen genügte, um zu erkennen, dass sie diese Option nicht mehr hatten. Ihr neues Hauptquartier war verloren. Ihnen blieb nur noch der Rückzug. Zu viele Agenten strömten ins Haus, als dass er sie noch hätte zurücktreiben können. Töten konnte er keinen von ihnen, wenn er nicht riskieren wollte, dass die Situation für ihn noch schwieriger wurde.
Blade hatte sich schon mit mehr Gegnern konfrontiert gesehen, aber diesmal verhielt es sich anders, denn dies waren Menschen. Unschuldige.
Ein einziger toter Mensch war bereits zu viel, und angesichts der Tatsache, dass es nun über hundert Augenzeugen gab, die jede seiner Bewegungen mitverfolgten, war eines klar: Wenn man ihn zu fassen bekam, dann würde er garantiert nie wieder das Tageslicht zu sehen bekommen.
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