Blade legte eine Hand auf Whistlers Schulter und drückte sie. „Du machst dir zu viel Gedanken, alter Mann.“
Whistlers Augen blitzten wütend auf. Er wirbelte herum und schlug die Hand des anderen zur Seite. „Ich habe das hier schon getan, bevor du auf der Welt warst, Blade. In dem Augenblick, in dem du aufhörst, dir Gedanken zu machen, bist du tot.“
Einen Moment lang starrten sich die beiden an. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Dann wurden Whistlers Züge sanfter. „Seit dem Tag, an dem ich dich fand, bist du für mich wie ein Sohn gewesen. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß.“ Er atmete pfeifend ein, dann seufzte er. „Aber ich bin müde. Verstehst du das?“
Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging weg.
In seinem spartanisch eingerichteten Zimmer saß Whistler im Dunkeln auf dem Bett und starrte auf den angelaufenen Ehering an seinem schwieligen Finger. Er drehte ihn langsam und gedankenverloren.
Auf der anderen Seite der Diele kniete Blade mit geschlossenen Augen vor einem kleinen Zen-Schrein. Weihrauch stieg aus einer matten silbernen Räuchervase auf, die hinter ihm auf dem Boden stand. Ein süßlicher und zugleich leicht beißender Duft breitete sich im Zimmer aus. Auf einem zeremoniellen Ständer ruhte Blades Schwert, die gravierte Titanium-Klinge glänzte im Mondschein. Darunter lagen seine Sonnenbrille und seine Lederjacke, deren Ärmel noch immer feucht waren vom Blut der Vampire. Die Stille im Zimmer wurde nur von der regelmäßigen Brandung und vom Wind, der sich in den Ritzen des Fensterrahmens fing, unterbrochen.
Blade konzentrierte sich auf das Rauschen des Meeres und zwang sich, all die hässlichen Geräusche in seinem Kopf zu ignorieren. Schreie und Schüsse spielten sich wieder und wieder in seinem übermüdeten Gehirn ab, untermalt vom unablässigen Motorgebrüll seines Chargers. Immer wieder tauchte Gedges Gesicht auf, wie er im Sterben lag, wie hinter der Angst und dem Schmerz der Triumph einer Klapperschlange gleich lauerte. Der Mann war davon überzeugt gewesen, dass sein Tod eine tiefere Bedeutung hatte, so als habe er irgendein Opfer gebracht.
Blade steckte in Schwierigkeiten, so viel war klar. Er hatte in aller Öffentlichkeit einen Menschen umgebracht, und dafür würde er bezahlen müssen.
Aber ihm und Whistler würde letzten Endes nichts passieren – so wie ihnen nie etwas passierte. Er musste bloß diese Kakophonie des Todes aus seinem Kopf bekommen, dann würde er sich dem Problem von jeder nur denkbaren Seite widmen und eine Lösung finden.
So wie er es immer machte.
Blade hatte sein Leben lang gegen die Bedrohung durch die Vampire gekämpft, seit er aus dem Bauch seiner sterbenden Mutter gerettet worden war, in all den Jahren des Schmerzes und des Leidens, die bis zu dem Tag gedauert hatten, als er Whistler begegnet war.
Er hatte durchgehalten. Er hatte durchhalten müssen.
Denn er war einer von ihnen.
Der Vampir, der seiner Mutter das Leben genommen hatte, war auch dafür verantwortlich, dass er bei Blade unauslöschliche Spuren hinterlassen hatte. Als er sie biss, übertrug sich der parasitäre Virus im Speichel der Kreatur durch die Plazenta auf Blade. Sein Blut wurde infiziert, während er zusammengekauert im Bauch seiner Mutter lautlos geschrien hatte.
Noch bevor er zur Welt gekommen war, hatte sich Blade unfreiwillig in etwas verwandelt, was er nicht sein wollte. Nicht ganz Mensch, nicht ganz Vampir. Es war ihm nie möglich gewesen, sich in Sicherheit zu bringen, sich und seine Mutter vor dem Monster zu beschützen, das ihr die Kehle herausgerissen und dann auf der Straße dem Tod überlassen hatte.
Jeden Tag in seinem Erwachsenenleben hatte Blade damit verbracht, Vampire zu töten, immer in der Hoffnung, er könnte so die Dinge irgendwie wieder gerade rücken. Jeder getötete Vampir gab ihm ein winziges Stück seines Selbst zurück, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass es nie genügen würde, um den angerichteten Schaden vollständig ungeschehen zu machen.
In gewisser Weise wusste Blade, dass er sich glücklich schätzen konnte. Er verfügte über alle Kräfte der Vampirrasse, die ihn hervorgebracht hatte, aber über keine ihrer Schwächen. Weder Knoblauch noch Silber oder Sonnenlicht konnten ihm etwas anhaben. Blade war im Vorteil, wenn er gegen Vampire kämpfte. Und diesen Vorteil nutzte er stets gnadenlos aus.
Daywalker nannten sie ihn.
Hinter seinem Rücken hatten sie allerdings noch ganz andere Bezeichnungen für ihn.
Anstelle eines reinrassigen Vampirs war Blade ein lebendes und atmendes menschliches Wesen, aber er war noch mehr. Das Virus hatte ihm große Kraft verliehen, seinen Blutdruck erhöht und den Stoffwechsel beschleunigt, ohne dass ihm dabei die Risiken drohten, die mit diesem Prozess normalerweise einhergingen. Sein Körper war unvergleichlich leistungsfähiger als der anderer Menschen, er konnte gespeicherten Blutzucker sofort in Energie umwandeln. Den Sauerstoff in seinem Blut konnte er fast zu hundert Prozent nutzen.
Whistlers erste Untersuchungen hatten außerdem gezeigt, dass das Virus die Drüsen umgebaut hatte, die Adrenalin produzierten. Tests bewiesen, dass Blades Adrenalin etwa zehnmal so wirkungsvoll wie das eines Menschen war und dass es nicht nur in Extremsituationen, sondern permanent ausgeschüttet wurde. Dies und einige andere biologische Verbesserungen machten Blade so übermenschlich schnell und stark. Und deshalb lief bei ihm auch der Heilungsprozess erheblich schneller ab.
Dafür war er durchaus dankbar, weil es ihm half, seine Aufgabe zu erledigen.
Doch für all dies musste er einen Preis bezahlen: Genau wie bei einem Vampir war sein Durst auf menschliches Blut ausgerichtet.
Blade hatte in seinen frühen Jahren damit zu kämpfen gehabt, seine Mordlust zu unterdrücken, da der Vampirparasit in jeder Zelle seines Körper danach schrie, genährt zu werden. Er hatte seine Jugend nur überstanden, indem er ein raues Leben führte und sich von Obdachlosen und Pennern ernährte. Zwar hasste er sich dafür, aber er war nicht in der Lage gewesen, etwas dagegen zu unternehmen. Der Durst hatte irgendwann in der Pubertät eingesetzt und aus dem gelegentlichen Appetit auf ein möglichst blutiges Steak den Drang zum Töten entstehen lassen. Blade war von seinen Pflegeeltern abgehauen und hatte die nächsten Jahre auf der Straße gelebt. Dort war es nur darum gegangen, zu überleben und den Behörden zu entkommen, die ihn unablässig jagten, um ihn für immer hinter Gitter zu stecken.
Whistler hatte dem ein Ende gesetzt: Er hatte ihn aufgenommen und auf ihn aufgepasst, obwohl er damit sein eigenes Leben einem beträchtlichen Risiko aussetzte. Das Wort Schmerz hatte eine ganz neue Bedeutung bekommen, als der alte Mann Blade geduldig beigebracht hatte, das Unmenschliche zu kontrollieren, dass in ihm steckte, anstatt mit Wut darauf zu reagieren. Durch Whistler hatte er gelernt, zu kämpfen anstatt zu jagen, zu jagen anstatt zu fliehen, und die Vampire zu hassen anstatt sich selbst.
Von Whistler hatte er auch gelernt, welche Wirkung Sonnenlicht, Knoblauch und Silber auf Vampire ausübten, und der alte Mann hatte Jahre seines Lebens damit zugebracht, neue und erfindungsreiche Mittel und Wege zu finden, um diese drei Dinge als Waffen einzusetzen. Whistlers früheres Leben als Büchsenmacher war in dem Moment beendet, als die Vampire seine Familie abgeschlachtet hatten. Von da an diente sein Wissen, das er in seinem Beruf erlangt hatte, nur noch einem einzigen Zweck.
Im Rahmen von Blades Rehabilitation hatte Whistler auch einen Impfstoff entwickelt, der direkt in den Blutkreislauf gespritzt wurde und der seinen unablässigen Durst nach Blut zum größten Teil unterdrückte.
Damit hatte Whistler das Unvorstellbare geschafft: Er hatte Blade das Leben wiedergegeben.
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