Dingo stieß ein leises Wimmern aus. Er saß in der Falle.
Langsam kam Abigail auf ihn zu und ließ sich Zeit. Sie beobachtete, wie der kleine Schurke vor Angst die Augen weit aufriss, während sie ihn ansah. Dabei versuchte sie gar nicht erst, zu verbergen, wie wenig sie sich um sein Leid scherte. Nachdem sie die Waffe weggesteckt hatte, zog sie einen der acht silbernen Pflöcke heraus, die an ihrem Oberschenkel festgemacht waren.
Sie erhob den Pflock und sagte: „Wenn es wehtut, Chico, dann schrei.“
Während sich Dingo schreiend in einen Glutregen verwandelte, wischte sie ihre Hände ab und richtete sich langsam auf, um sich die Bescherung auf dem Bahnsteig anzusehen. Die Asche der Vampirgang war auf dem Boden verstreut und knackte wie verkohltes Holz am Lagerfeuer, nachdem es intensiv gebrannt hatte und dann erloschen war.
Ihr Blick fiel auf die Digitaluhr an ihrem Arm. Siebenunddreißig Sekunden waren verstrichen, seit die Vampire ihren Angriff gestartet hatten.
Sie verzog das Gesicht. Nicht schlecht, aber immer noch Welten von ihrer persönlichen Bestleistung entfernt.
Mit einem Schulterzucken sammelte sie die beiden Silberpflöcke ein, die inmitten der Asche lagen, dann hob sie ihren Mantel auf, klopfte den Vampirstaub aus dem Stoff und zog ihn an. Sie setzte ihre Mütze wieder auf und schob ihre Zöpfe darunter, dann nahm sie die Einkaufstaschen von der Bank.
In diesem Moment wurde der Luftzug aus dem Tunnel stärker. Ihr Zug fuhr ein und kam vom Zischen der hydraulischen Bremsen begleitet zum Stehen. Abigail wartete geduldig an der Sicherheitslinie, während sich die Türen öffneten und ein Strom Fahrgäste auf den Bahnsteig drängte. Die Menge eilte zum Ausgang und lief dabei über die Vampirasche, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Keiner von ihnen ahnte, welcher Kampf sich hier erst wenige Sekunden zuvor abgespielt hatte.
Abigail blickte ihnen nach und schob eine Locke hinter das Ohr. Sie überlegte, was sie am besten machen sollte. Vielleicht sollte sie auf dem Heimweg bei 7-Eleven haltmachen und einen Beutel Reis kaufen. Dann konnte sie die Tomaten für morgen liegen lassen, wenn sie mehr Zeit hatte, um eine große Portion Risotto zuzubereiten. Das würde viel länger reichen als die Nudeln, und es wären nur halb so viele Kalorien.
Ja, das war die beste Lösung.
Zufrieden kämpfte sie sich durch die Masse der Berufspendler und stieg in die Bahn, als sich die Türen gerade schließen wollten. Sie war die Einzige in der nun menschenleeren Bahn, die mit hoher Geschwindigkeit in den finsteren Tunnel einfuhr.
Für Abigail Whistler war ein weiterer Arbeitstag zu Ende gegangen.
Kurz vor Ladenschluss wartete Whistler geduldig an der Kasse des 7-Eleven. Der Kassierer suchte nach einem Päckchen Nikotinpflaster, das er hinter einer Reihe aus Wodka- und Rumflaschen vermutete, die alle mit Sicherheitssiegeln versehen waren.
Whistler sah sich im Geschäft um und pfiff tonlos vor sich hin. Es roch nach frittiertem Essen und Bodenreiniger mit Zitronenduft. Jeder Quadratzentimeter Freifläche war mit grellbunten Displays und eingerissenen alten Werbeplakaten behängt worden. An der Wand gegenüber blinkte ein Limonadenautomat, während sein technisches Innenleben langsam in der Feuchtigkeit im Laden verrottete.
Dass sein Vorrat an Pflastern fast aufgebracht war, war für Whistler der ideale Vorwand gewesen, eine Zeit lang das Bootshaus verlassen und seine Gedanken in Ruhe ordnen zu können. Er war sogar mehr als froh, dass er auf Abstand gehen konnte, vor allem nach den Ereignissen des heutigen Tages. Er durfte nicht einmal darüber nachdenken, weil er sonst sofort wieder eine Riesenwut auf Blade bekam. Allerdings wusste er auch, dass ihnen beiden damit nicht geholfen wäre.
„Sajne pluvos“, sagte er auf Esperanto zu dem Kassierer, um ein wenig Konversation zu betreiben. Sieht nach Regen aus.
Der Mann nickte beiläufig, kramte weiter und wurde immer besorgter, je mehr Schachteln er entdeckte, in der sich das Gesuchte auch nicht befand. Whistler verkniff sich ein ironisches Lächeln. Der junge Mann arbeitete erst seit zwei Wochen hier und wusste noch längst nicht, wo was zu finden war.
Whistler erinnerte sich gut daran, was es bedeutete, in einem solchen Geschäft zu arbeiten. Als er jung war, hatte er einen Job in einem Laden in seiner Nachbarschaft gehabt. Er wusste, wie schwierig es war, über die Runden zu kommen und gleichzeitig einen Funken Selbstrespekt zu wahren. Damals hatte er sich immer vorgemacht, er verkaufe sich nicht, sondern gestatte vielmehr einem anderen, ihn vorübergehend zu kaufen.
Schließlich sollte es nur vorübergehend sein, bis sich etwas Besseres ergab…
Er wusste noch gut, wie er sich genau das acht Monate lang eingeredet hatte, bis es eines Nachts zu einem Streit mit einem betrunkenen und schwerbewaffneten Mitglied der Hell’s Angels gekommen war. Der Mann war mit dem geforderten Preis nicht einverstanden gewesen, und Whistler hatte sich gleich danach gezwungen gesehen, nach einer anderen Beschäftigung Ausschau zu halten. Gleichzeitig war die Geschäftsleitung zu der Einsicht gekommen, dass der Fußboden vor der Ladentheke eines innerstädtischen Spirituosengeschäfts doch lieber möglichst dunkel gefärbt sein sollte.
So war es immer, dachte Whistler. Die meisten Leute gaben sich völlig damit zufrieden, dass sie im Leben gescheitert waren, solange sie sich vormachen konnten, dass sie sich nur momentan in einem Tief befanden. Es gab Menschen, die verbrachten sogar ihre ganzes Leben damit, sich auf die Zukunft zu freuen, während in der Realität eine klägliche Minute nach der anderen verstrich, aus der Stunden, Tage und schließlich Jahre wurden…
Whistler schüttelte den Kopf und suchte in der Tasche nach Kleingeld. Der Kassierer schob ihm ein kleines Päckchen über die Theke, das Whistler in der Jackentasche verstaute, in der sich etliche Bolzen und kleine Maschinenteile voller Schmierfett befanden.
Er war ein Verfechter des Sprichworts, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied war, und er achtete darauf, dass ihm gefiel, was er tat – und das immer nach dem Prinzip, von einem Tag zum anderen zu leben. Seine nächtlichen Spaziergänge waren Teil des wenigen Luxus, den er sich gönnte, ein kurzer Ausflug in die Welt des Normalen, ehe er in sein Leben voller Vampire und Gewalt zurückkehrte. Ein zufälliger Beobachter würde ihn für einen ganz normalen Mann halten, der nachts noch ein wenig spazierenging. Das gefiel Whistler mehr, als er es je zuzugeben wagte.
Auch wenn er wusste, dass völlige Geheimhaltung von größter Bedeutung für ihre Mission war, genoss er sein kleines Ritual viel zu sehr, als dass er darauf hätte verzichten wollen. Der lange Spaziergang an der Straße entlang und eine Viertelstunde Stöbern im Supermarkt wirkten beruhigend auf ihn und gaben ihm Zeit zum Nachdenken. Wenn er mit seinen Besorgungen zurückkehrte, war er bereit, sich wieder seiner Welt zu stellen.
Whistler schüttelte traurig den Kopf, dann wandte er sich ab und ging zur Tür.
Er wünschte, Blade würde ihn nur einmal begleiten, doch der blieb lieber zu Hause, schärfte sein verdammtes Schwert und brütete vor sich hin.
Das war natürlich Blades Problem, so viel war Whistler klar. Der Kerl verstand es einfach nicht, sich auch mal zu entspannen. Er hatte mit den Menschen viel gemeinsam, doch ein Hybridwesen zu sein, schien die Symptome nur umzukehren. Blade träumte von einer besseren Welt, einer Welt ohne Vampire, doch er weigerte sich, das Hier und Jetzt zu genießen, obwohl er nur zu gut wusste, wie kostbar jede Sekunde des Lebens war.
Etwas holte Whistler aus seinen Gedanken. Er blieb gegenüber vom Zeitschriftenregal stehen, dann ging er zurück bis zu dem Drehständer, in dem die aktuellen Tageszeitungen steckten.
Oh, Mist!
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