Da stand nun eine Mahlzeit vor ihnen, wie sie sie seit ihrem Besuch im Haus an der Einödgrenze und ihrem Abschied von Elrond nicht mehr erlebt hatten. Das Licht der Fackeln und des Feuers flackerte rund um sie her, und auf der Tafel standen zwei hohe rote Bienenwachskerzen. Während der ganzen Mahlzeit erzählte Beorn in seiner tiefen, rollenden Stimme Geschichten über die wilden Gegenden auf dieser Seite des Gebirges und besonders über den dunklen und gefährlichen Wald, der einen Tagesritt weit sich vor ihnen von Nord nach Süd erstreckte und den Weg nach Osten versperrte: der schreckliche Nachtwald.
Die Zwerge lauschten und schüttelten ihre Bärte, denn sie wußten, daß sie sich bald in diesen Wald hineinwagen mußten und daß nach der überquerung des Gebirges dies die schlimmste aller Gefahren war, die sie zu bestehen hatten, ehe sie in den Herrschaftsbereich des Drachen gelangten. Als das Essen vorüber war, fingen sie an, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, aber Beorn schien schläfrig zu werden und ihnen wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sprachen meist von Gold und Silber und Juwelen, von Gegenständen des Schmiedehandwerks, doch Beorn nahm daran keinen Anteil: In seiner Halle gab es nichts aus Gold und Silber, und außer den Messern war kaum etwas aus Metall gefertigt.
Vor ihren hölzernen Methumpen saßen sie lang noch am Tisch. Von draußen kam die Nacht.
Die Feuer in der Mitte der Halle wurden mit frischen Holzklötzen neu aufgebaut, die Fackeln wurden gelöscht, und noch immer saßen sie im Licht der tanzenden Flammen. Die Säulen der Halle standen hochaufgerichtet hinter ihnen, ihr oberer Teil in Dunkelheit gehüllt wie die Bäume des Waldes. Ob es nun Zauberei war oder nicht – Bilbo schien es, als ob er ein Geräusch hörte wie Wind in den Zweigen, der am Gebälk rüttelte, und wie das Schreien der Eulen. Bald sank ihm der Kopf vor Schläfrigkeit vornüber, und die Stimmen versanken in weiter Ferne – da wachte er mit einem Ruck auf.
Die große Tür krachte und wurde ins Schloß geworfen. Beorn war gegangen. Die Zwerge saßen mit gekreuzten Beinen um das Feuer, und gerade jetzt fingen sie an zu singen. Die Verse erzählten vom Wind, der über die dürre Heide hinwegbrauste, Rauchfetzen über dem Drachenlager im Einsamen Berg zerfetzte, dann unter dem Mond, der sein altes, vergilbtes Segel setzte, die Welt verließ und in der sterntiefen Nacht die riesigen Seen der Finsternis aufwühlte.
Bilbo fing wieder an einzunicken. Plötzlich stand Gandalf auf »Es ist Zeit für uns, schlafen zu gehen«, sagte er. »Für uns, aber nicht für Beorn, nehme ich an. In seiner Halle sind wir heil und sicher aufgehoben. Aber ich warne euch alle, vergeßt nicht, was Beorn uns sagte, ehe er ging: ›Ihr dürft nicht hinausgehen, ehe die Sonne kommt, bei Leib und Leben nicht!«
Bilbo stellte fest, daß seitwärts auf einem Aufsatz zwischen Pfeilern und Außenwand Lager bereitet wurden. Für ihn gab es eine kleine Strohmatratze und wollene Decken. Sehr froh krabbelte er hinein, auch wenn es Sommerzeit war. Das Feuer war niedergebrannt, und er schlief ein. Doch in der Nacht wachte er auf: Das Feuer war zu glimmender Asche zerfallen; die Zwerge und Gandalf schliefen, nach ihrem Atmen zu urteilen. Der hoch stehende Mond, der durch das Rauchloch im Dach blickte, hatte einen weißen Fleck auf den Boden gezeichnet.
Von draußen aber waren ein Brummen zu hören und ein Geräusch, als ob ein großes Tier vor der Tür scharrte. Bilbo überlegte, was das bedeuten mochte, ob es Beorn in seiner Verzauberung wäre und ob er als Bär hereinkommen und sie töten würde. Er tauchte unter seine Decken, verbarg seinen Kopf und fiel schließlich wieder in Schlaf, obgleich er sich doch so sehr fürchtete.
Es war heller Morgen, als er aufwachte. Einer von den Zwergen war in dem dunklen Winkel, in dem er lag, über ihn gestolpert und mit einem Plumps von dem Aufsatz auf den Hallenboden heruntergerollt.
Es war Bombur, und er murrte, als Bilbo seine Augen öffnete.
»Steh auf, du Faulpelz«, sagte er, »oder es bleibt nichts mehr zu frühstücken übrig für dich.«
Auf sprang Bilbo. »Frühstück«, rief er. »Wo ist das Frühstück?«
»Zum größten Teil in unserem Bauch«, antworteten die anderen Zwerge, die in der Halle umhergingen. »Aber was wir übriggelassen haben, steht draußen auf der Veranda. Wir haben uns nach Beorn umgesehen; die ganze Zeit, nachdem die Sonne aufging, aber keine Spur von ihm.
Abgesehen von dem Frühstück, das wir draußen vorfanden.«
»Wo ist Gandalf?« fragte Bilbo und sah zu, daß er möglichst rasch etwas zu essen fand.
»Oh, Fort und irgendwo draußen«, sagten sie ihm. Aber auch vom Zauberer keine Spur an diesem Tag. Kurz vor Sonnenuntergang betrat er die Halle, wo der Hobbit und die Zwerge gerade ihre Abendmahlzeit einnahmen, die ihnen, wie schon den ganzen Tag, Beorns wunderbare Tiere auftrugen. Von Beorn hatten sie seit der letzten Nacht weder etwas gesehen noch gehört, und sie waren schon sehr verwundert.
»Wo ist unser Gastgeber, und wo seid Ihr selbst den ganzen Tag geblieben?« riefen sie alle zugleich.
»Eine Frage immer hübsch nach der anderen – und das erst nach dem Abendbrot! Seit dem Frühstück habe ich keinen Bissen mehr gegessen.«
Schließlich schob Gandalf Teller und Krug von sich – er hatte zwei ganze Brotlaibe verspeist (mächtig bestrichen mit Butter, dazu Honig und dicke Sahne), und dann hatte er noch ein Viertel Met getrunken. Er holte seine Pfeife hervor. »Ich will die zweite Frage zuerst beantworten«, sagte er.
»Donnerwetter, ist dies ein herrlicher Platz für Rauchringe!« Und in der Tat – für lange Zeit konnten sie nichts anderes aus ihm herausbringen. Er war viel zu beschäftigt, Rauchringe auf steigen zu lassen, die rund um die Hallenpfeiler schwebten und die unterschiedlichsten Formen und Farben annahmen.
Zum Schluß mußten sie sich gegenseitig durch das Loch im Gebälk hinausjagen. Von draußen wird es sehr seltsam ausgesehen haben, wie ein Rauchring nach dem anderen in die Luft stieg, grüne, blaue, rote, silbergraue, gelbe, weiße, große und dünne, kleine, die durch große hindurchzogen und sich zu Achten vereinigten oder wie ein Schwarm Vögel davonstoben.
»Ich habe Bärenfährten aufgespürt«, sagte er endlich. »Es muß wohl eine richtige Bärenversammlung heut nacht hier draußen stattgefunden haben. Ich merkte bald, daß die Fährten nicht allein von Beorn herrühren konnten: Sie waren viel zu zahlreich und verschieden groß. Ich würde sagen, es waren kleine Bären, große Bären, gewöhnliche Bären und riesenhafte Bären, die da vom Beginn der Nacht bis fast zum Morgengrauen getanzt haben. Sie kamen aus nahezu allen Richtungen, ausgenommen vom Westufer des Flusses, vom Gebirge. In diese Richtung führte bloß eine einzige Fährte – und diese kam nicht, sondern führte nur von hier dorthin. Ich folgte ihr bis zum Carrock. Dort verschwand sie im Fluß, aber für mich war das Wasser zu tief und die Strömung zu stark, um hinüberzuwechseln. Es ist leicht, wie ihr euch erinnert, von hier aus durch die Furt den Carrock zu erreichen, aber auf der anderen Seite ragt er wie eine Klippe aus einem Strom voller Wirbel. Meilenweit mußte ich suchen, ehe ich eine Stelle fand, an der der Fluß breit und seicht genug war, damit ich watend und schwimmend hinüberkam. Und dann mußte ich die Meilen zurückgehen und die Fährte wieder aufnehmen. Inzwischen war es zu spät geworden, ihr lange weiter zu folgen. Sie führte geradewegs auf die Fichtenwälder an der Ostseite der Nebelberge zu, wo wir unsere hübsche kleine Zusammenkunft mit den Riesenwölfen vorletzte Nacht hatten. Und damit hoffe ich, auch eure erste Frage beantwortet zu haben«, endete Gandalf, und er saß eine Weile schweigsam da.
Bilbo glaubte, er hätte erraten, was Gandalf meinte.
»Was sollen wir machen«, rief er, »wenn er alle Wölfe und Orks herbeiholt? Wir werden gefangen und umgebracht werden! Aber Ihr sagtet doch, Beorn wäre keineswegs ihr Freund!«
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