»Nein, nein!« sagte Bilbo. »Das meinte ich ja gar nicht. Ich meinte, ob es da nicht einen Weg drum herum gibt?«
»Den gibt es, wenn es euch nichts ausmacht, zweihundert Meilen etwa nach Norden zu wandern oder das Doppelte nach Süden. Aber selbst dann würdet ihr keinen sicheren Weg finden. Es gibt keine sicheren Wege in diesem Teil der Welt. Erinnert euch: Ihr habt die Einödgrenze überschritten und müßt euch hier überall auf allerlei Späße gefaßt machen. Ehe ihr den Nachtwald im Norden umgehen könnt, würdet ihr mitten in die Hänge des Grauen Gebirges geraten, und die sind einfach vollgestopft mit Orks, Hobkobolden und Ungeheuern übelster Art. Und ehe ihr den Wald im Süden umgehen könntet, würdet ihr in das Land des Geisterbeschwörers kommen. Und gerade Euch, Bilbo, brauche ich keine Geschichten über diesen schwarzen Hexenmeister zu erzählen. Ich rate euch gut: Geht niemals in Gegenden, die sein finsterer Turm überragt! Haltet euch an euren Waldweg, bleibt tapfer, hofft auf das Beste, und mit einer riesengroßen Scheibe Glück könnt ihr eines Tages wieder herauskommen und die Langen Sümpfe unter euch liegen sehen und hinter ihnen, weit im Osten, den Einsamen Berg, wo der gute alte Smaug haust – und ich hoffe, daß er euch nicht erwartet.«
»Ein großer Trost!«, Tatsache, knurrte Thorin. »Lebt wohl Wenn Ihr nicht mit uns gehen wollt, dann zieht besser jetzt ab ohne weitere Reden!«
»Gut, lebt wohl, und buchstäblich: Lebt wirklich wohl!« sagte Gandalf, er wandte sein Pferd und ritt hinab nach Westen. Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, das letzte Wort zu behalten.
Ehe er außer Rufweite war, drehte er sich noch einmal um, legte die Hände an den Mund und rief ihnen etwas zu. Ganz schwach hörten sie seine Stimme aus der Ferne: »Lebt wohl! Seid vernünftig, paßt gut auf euch auf und verlaßt niemals den Pfad!«
Dann galoppierte er davon und war bald außer Sicht. »Oh, lebt nur wohl und verschwindet!« brummten die Zwerge, die wütend waren, denn Gandalf zu verlieren, das hatte sie in Schrecken versetzt. Und jetzt begann der gefährlichste Teil ihrer Unternehmung. Ein jeder schulterte das schwere Gepäck und die Wasserschläuche, wandte sich aus dem Licht, das auf den Ländern draußen lag, und tauchte in den Wald ein.
Sie zogen in einfacher Reihe dahin. Der Eingang des Weges sah wie ein Torbogen zu einem dunklen Stollen aus. Zwei große Bäume, die sich einander zuneigten, bildeten das Eingangsgewölbe. Die Bäume waren schon viel zu alt, von Efeu erdrosselt und flechtenbehangen, um mehr als nur wenige schwarz verfärbte Blätter zu tragen. Der Pfad selbst war schmal und wand sich bald links, bald rechts um die Stämme. Nicht lange, und das Licht des Eingangs war nur noch ein kleiner, leuchtender Ausschnitt weit hinter ihnen. Die Stille war so tief, daß ihre Füße dumpf auf dem Boden widerhallten, während alle Bäume sich überzulehnen und zu lauschen schienen.
Als ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, konnten sie ein Stückchen nach jeder Seite in eine Art düster grünes Glimmen schauen. Gelegentlich fiel ein Lichtstrahl, der das Glück hatte, durch das Blätterdach hoch oben zu dringen, ohne vom Gewirr des Astwerks und dem verfilzten Verhau der unteren Zweige aufgefangen zu werden, wie ein schmaler, schimmernder Dolch vor ihnen auf den Boden. Aber das geschah selten, und bald hörte auch das auf.
Im Wald gab es schwarze Eichhörnchen. Als Bilbos scharfe, forschende Augen sich eingewöhnt hatten, konnte er hin und wieder einen Blick auf sie werfen, wenn sie über den Pfad fegten oder hinter den Stämmen davontrippelten. Es gab auch andere sonderbare Geräusche, Grunzen, Schnaufen, Rascheln im Unterholz und in den Blättern, die sich an einigen Stellen zu unglaublich hohen Haufen aufgetürmt hatten. Aber von wem die Geräusche herrührten – das konnte er nicht entdecken. Das Scheußlichste, was ihnen begegnete, waren die Spinngewebe: dunkle, dichte Spinngewebe mit außerordentlich dicken Fäden, oft zwischen den Bäumen, oft auch wirr in den unteren Zweigen auf allen Seiten der Stämme. Aber kein Netz war quer über den Pfad gespannt. Hielt nun ein Zauber ihn frei, oder gab es sonst einen besonderen Grund – sie konnten es nicht erraten.
Es dauerte nicht allzulange, da begannen sie diesen Wald aus ebenso tiefem Herzen zu hassen wie die Stollengänge der Orks, nur schien ihnen der Nachtwald noch unendlicher zu sein. Immer weiter mußten sie ziehen, und schon lange wünschten sie sich heiß und innig ein bißchen Sonne und ein Stückchen blauen Himmel und sehnten sich nach einem Windhauch auf ihrem Gesicht. Unter dem Dach des Waldes aber rührte sich die Luft nicht. Hier gab es nur ewig währende Stille, Finsternis und Moder. Selbst die Zwerge spürten das, obgleich sie doch gewohnt waren, in der Erde zu graben und lange Zeit ohne Licht und Sonne zu leben. Aber der Hobbit, der Höhlen nur dazu benutzte, um eine Wohnung hineinzubauen, der jedoch nie einen einzigen Sonnentag darin verbrachte, merkte, wie es ihm allmählich den Hals zuschnürte.
Die Nächte waren am schlimmsten. Es wurde pechfinster, nicht, was ihr so pechfinster nennt, sondern es war wirklich finster wie Pech: so schwarz, daß man in der Tat rein gar nichts sah. Bilbo hielt die Hand vor seine Nase, aber er konnte sie nicht sehen. Nun, vielleicht ist es doch nicht richtig zu sagen, daß sie rein nichts sahen: Sie sahen Augen. Dicht aneinander gedrückt schliefen sie und wachten reihum. Als die Reihe an Bilbo kam, konnte er rund um sich ein Schimmern in der Schwärze sehen und zuweilen gelbe, rote oder grüne Augenpaare, die ihn aus kurzer Entfernung anstarrten und dann langsam verblaßten und verschwanden und allmählich wieder von einer anderen Stelle her zu glühen begannen. Manchmal schimmerten sie auch von den Zweigen dicht über ihm herab, und das war das entsetzlichste. Aber die Augen, die er am meisten verabscheute, waren bleiche, knopfrunde, schreckliche Augen. Insektenaugen, dachte er, keine Säugetieraugen! Allerdings, sie sind viel zu groß dafür.
Obgleich es noch nicht sehr kalt war, versuchten sie, nachts Wachfeuer zu unterhalten; aber das gaben sie bald wieder auf. Es lockte Hunderte und aber Hunderte Augen an, obgleich die Wesen, welcher Art sie auch immer sein mochten, sehr vorsichtig waren und niemals ihren Körper in dem kleinen Flackerlicht des Feuers sehen ließen. Schlimmer aber: Es zog Tausende von dunkelgrauen und schwarzen Nachtfaltern an, von denen einige fast so groß wie eure Hand waren, und die schwirrten und flatterten ihnen um die Ohren. Das hielten sie nicht aus, und die riesenhaften Fledermäuse, die so schwarz waren wie ein Zylinderhut, gaben ihnen den Rest. Sie verzichteten auf Wachfeuer und saßen in der Nacht und dösten in der gewaltigen, unheimlichen Dunkelheit vor sich hin.
All dies nahm kein Ende, und dem Hobbit schien es, als seien Jahre und Jahre vergangen. Außerdem war er stets hungrig, denn sie gingen außergewöhnlich vorsichtig mit ihren Vorräten um. Wie die Tage so einander folgten und der Wald doch immer derselbe blieb, fingen sie an, ängstlich zu werden. Die Lebensmittel würden nicht ewig reichen. Längst waren sie knapp geworden. Sie versuchten, Eichhörnchen zu schießen, und vergeudeten viele Pfeile, bevor sie eines zur Strecke brachten. Aber als sie es brieten, schmeckte es scheußlich, und sie schossen nie wieder auf Eichhörnchen.
Durstig waren sie auch, denn sie besaßen nicht viel Wasser, und während der ganzen Zeit hatten sie weder eine Quelle noch einen Bach gesehen. So stand es mit ihnen, als sie eines Tages ihren Pfad von einem fließenden Gewässer versperrt fanden. Es floß schnell und mächtig dahin, obgleich es an ihrem Pfad gar nicht so breit war. Es war schwarz oder sah in der Dämmerung jedenfalls schwarz aus. Gut nur, daß Beorn sie gewarnt hatte, sonst hätten sie von diesem Fluß getrunken, gleichgültig, wie auch immer seine Farbe war. Und ihre leer gewordenen Wasserschläuche hätten sie ebenfalls am Ufer gefüllt. Jetzt aber waren sie einzig darauf bedacht, den Fluß zu kreuzen, ohne einen Tropfen von diesem Wasser auf die Haut zu bekommen. Es hatte hier einmal eine Holzbrücke gegeben, aber sie war verfault und verfallen, und nur die zerbrochenen Uferpfosten waren übriggeblieben.
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