»Nein, das wißt Ihr nicht hörte er antworten. »Der Speck weiß, daß er früher oder später zurück in die Pfanne wandert. Wir hoffentlich nicht. Außerdem sind Adler keine Gabeln!«
»O nein, kein bißchen wie Gabeln«, sagte Bilbo, setzte sich auf und betrachtete ängstlich den Adler, der dicht neben ihm kauerte. Er wunderte sich, was für einen Unsinn er noch geredet hatte und ob es der Adler vielleicht krummgenommen habe. Einem solchen Vogel sollte man nicht rauhbeinig kommen, wenn man nur so groß wie ein Hobbit ist und noch dazu nachts in einem Adlerhorst sitzt.
Der Adler wetzte nur seinen Schnabel an einem Stein, strich seine Federn glatt und nahm keine Notiz.
Bald kam ein anderer Vogel herangeflogen. »Der Fürst der Adler bittet Euch, die Gefangenen zur großen Felsplatte zu bringen«, schrie er und strich wieder ab. Der schweigsame Vogel nahm Dori sogleich in seine Klauen, flog fort mit ihm in die Nacht und ließ Bilbo allein.
Der Hobbit hatte kaum noch Kraft, darüber nachzudenken, was der Bote mit den Gefangenen gemeint hatte. Und als er sich gerade vorstellte, wie er, einem Kaninchen gleich, zum Nachtmahl zerrissen wurde, kam auch die Reihe an ihn.
Der Adler kehrte zurück, griff mit seinen Klauen von hinten Bilbos Jacke und schwang sich in die Luft.
Diesmal flog er nur einen kurzen Weg. Bilbo, zitternd vor Angst, wurde auf einer breiten Felsplatte an einer Gebirgswand niedergelegt. Hier herauf führte kein Weg, es sei denn, man konnte fliegen. Und einen Weg hinab gab es auch nicht, es sei denn, man sprang über einen Abgrund. Bilbo fand all die anderen mit dem Rücken zur Bergwand sitzen. Der Fürst der Adler war ebenfalls da und sprach mit Gandalf.
Es schien, als ob Bilbo nach allem doch nicht verspeist werden sollte. Der Zauberer und der Adlerfürst kannten einander. Offenbar standen sie auf freundschaftlichem Fuß. Tatsächlich hatte Gandalf, der oft im Gebirge gewesen war, den Adlern einst einen Dienst erwiesen und ihren Fürsten von einer Pfeilwunde geheilt. Wie ihr also seht, bedeutete »Gefangene« nichts anderes als Gefangene, die aus den Händen der Orks errettet worden waren, und nicht Gefangene der Adler. Als Bilbo der Rede Gandalfs lauschte, erfuhr er, daß sie nun endlich wirklich und wahrhaftig aus den schrecklichen Bergen entkommen würden. Der Zauberer besprach mit dem Großen Adler den Plan, wie man die Zwerge, ihn selbst und Bilbo weit forttragen und unten auf ihrem Weg durch die Ebenen absetzen konnte.
Der Fürst der Adler wollte sie keinesfalls dorthin bringen, wo Menschen lebten. »Mit ihren großen Eibenbogen schießen sie auf uns«, sagte er, »denn sie glauben, wir wären hinter ihren Schafen her.
Und wenn es ein andermal wäre, hätten sie sogar recht. Nein! Wir sind froh, daß wir den Orks ihr Spiel verdorben haben und Euch unseren Dank abstatten konnten. Aber wir wollen unsere Haut nicht für Zwerge zu Markte tragen.«
»Sehr richtig«, bemerkte Gandalf. »Bringt uns, wohin und so weit Ihr wollt! Wir sind Euch schon genug zu Dank verpflichtet. Aber inzwischen sterben wir vor Hunger.«
»Ich bin schon beinahe tot«, sagte Bilbo mit weicher, leiser Stimme, die niemand hörte: »Dem kann vielleicht abgeholfen werden«, erwiderte der Fürst der Adler.
Später hättet ihr ein leuchtendes Feuer auf der Felsplatte sehen können und rundherum die Gestalten der Zwerge, die da kochten und brutzelten, und ein feiner Bratengeruch breitete sich aus. Die Adler hatten trockenes Holz heraufgebracht, Kaninchen, Hasen und ein kleines Schaf. Die Zwerge dagegen hatten alle anderen Vorbereitungen übernommen. Bilbo aber fühlte sich viel zu weich in den Knien, um zu helfen. übrigens war es auch nicht das Richtige für ihn, Kaninchen das Fell über die Ohren zu ziehen oder Fleisch zu zerlegen, denn er war es gewohnt, daß sein Fleischer ihm alles fertig ins Haus lieferte. Oin und Gloin hatten Zunder und Flint verloren (Zwerge benutzen selbst heute noch keine Streichhölzer). Nachdem Gandalf das Feuer in Gang gesetzt hatte, legte er sich ebenfalls nieder.
So endeten die Abenteuer in den Nebelbergen. Bald war Bilbos Magen wieder voll. Er fühlte sich wohl und spürte, daß er zufrieden einschlafen würde, obgleich er in Wirklichkeit Brot und Butter den an den Stöcken gerösteten Fleischstücken vorgezogen hätte. Er rollte sich ein und schlief auf den harten Felsen besser als jemals in seinem Federbett daheim. Aber während der ganzen Nacht träumte er von seinem Haus, wanderte im Schlaf durch die verschiedenen Zimmer und suchte etwas, das er nicht finden konnte. Ja, er konnte sich nicht einmal entsinnen, wie es aussah.
7
Ein sonderbares Quartier
Am nächsten Morgen wachte Bilbo mit der frühen Sonne auf. Sie leuchtete ihm mitten ins Gesicht. Er sprang auf die Beine, um auf die Uhr zu sehen und den Teekessel aufzusetzen – und fand, daß er keineswegs zu Hause war. So setzte er sich also wieder und sehnte sich vergeblich nach Waschlappen und Bürste. Keins von beiden war zu haben, und zum Frühstück gab es weder Tee noch geröstete Brotscheiben, noch gebratenen Speck, es gab nichts als kaltes Hammelfleisch und Kaninchen. Und danach mußte er sich für einen neuen Flug fertigmachen.
Diesmal durfte er auf den Rücken des Adlers klettern und zwischen den Schwingen Halt suchen. Der Flugwind rauschte über ihn hinweg, und er schloß die Augen. Die Zwerge schrien gerade »Auf Wiedersehen!« und versprachen, den Fürsten der Adler zu belohnen (wenn sie es jemals könnten), als fünfzehn große Vögel sich von der Felsplatte erhoben. Die Sonne stand noch ganz niedrig im Osten.
Der Morgen war kühl, und Nebel lagen in den Tälern und Schluchten und wehten da und dort um die Gipfel und Kuppen der Berge. Bilbo öffnete vorsichtig ein Auge, und da sah er, daß die Vögel schon sehr hoch flogen, die Welt weit fort war und die Berge hinter ihnen in der Ferne zurückblieben. Er schloß die Augen wieder und klammerte sich fester.
»Kneif mich nicht!« sagte der Adler. »Du brauchst dich nicht wie ein Kaninchen zu fürchten, auch wenn du aussiehst, als wärst du eins. Wir haben einen schönen Morgen und angenehmen Wind. Was ist besser als Fliegen?«
Bilbo hätte am liebsten gesagt: »Ein warmes Bad und danach ein spätes Frühstück im Garten.« Aber er dachte, es sei besser, überhaupt nichts zu sagen, und so löste er seinen Klammergriff ein bißchen.
Nach einer guten Weile mußten die Adler wohl den Punkt erspäht haben, auf den sie zusteuerten, denn obgleich sie in gewaltiger Höhe flogen, schwenkten sie ein und glitten in großen Spiralen tiefer.
So flogen sie lange Zeit, und schließlich öffnete der Hobbit abermals seine Augen. Die Erde lag schon viel näher, und unter ihnen gab es Bäume, die nach Eichen und Ulmen aussahen, und weites Grasland, das ein Fluß durcheilte. Aber mitten aus dem Lauf des Flusses, der sich links und rechts vorbeiwinden mußte, erhob sich ein mächtiger Fels, ja geradezu ein Felsenberg, wie ein letzter Außenposten des fernen Gebirges, den ein Riese unter den Riesen Meilen hinaus in die Ebene geschleudert haben mußte.
Rasch schwangen sich die Adler nacheinander auf die Kuppe dieses Felsens und setzten dort ihre Passagiere ab. »Fahrt wohl«, riefen sie, »wo auch immer ihr hinfahrt, bis ihr am Ende eurer Reise wieder wohlbehalten in euren Horsten landet!« Unter Adlern ist dies das übliche höfliche Abschiedswort.
»Möge der Wind unter euren Schwingen euch dorthin tragen, wo die Sonne zieht und der Mond wandert«, antwortete Gandalf, der die korrekte Antwort kannte.
So nahmen sie Abschied. Und obgleich der Fürst der Adler in späteren Tagen König aller Vögel wurde, obgleich er eine goldene Krone trug und seine Häuptlinge goldene Halsketten (aus dem Gold geschmiedet, das ihnen die Zwerge gaben)sah Bilbo sie niemals wieder, ausgenommen hoch in der Luft und weit weg in der Schlacht der fünf Heere. Aber da dies erst ans Ende dieser Geschichte gehört, wollen wir jetzt nichts mehr darüber sagen.
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