Außerdem sind wir hier noch sehr hoch oben. Los, jetzt müssen wir weiter!«
»Ich bin so schrecklich hungrig«, klagte Bilbo, der plötzlich gewahr wurde, daß er seit der vorvorigen Nacht nichts mehr gegessen hatte. Denkt bloß, was das für einen Hobbit heißt! Sein Magen fühlte sich ganz leer und schlaff an, und seine Beine waren richtig weich, jetzt, da die Aufregung vorüber war.
»Ich kann es nicht ändern«, sagte Gandalf, »es sei denn, Ihr fragt die Orks höflich, ob sie Euch das Pony und Euren Verpflegungssack zurückgeben wollen.«
»Nein, vielen Dank«, entgegnete der Hobbit.
»Gut also, wir müssen uns den Gürtel enger schnallen und weitertrotten – oder wir werden zu Hackfleisch gemacht, und das dürfte in jedem Fall schlimmer sein als selbst keines haben.«
Als sie so marschierten, blickte Bilbo nach allen Seiten, ob nicht etwas Eßbares zu finden wäre. Aber die Heidelbeeren standen gerade erst in der Blüte. Nüsse gab es natürlich auch nicht, nicht einmal Weißdornbeeren. Er knabberte ein bißchen am Sauerampfer, trank aus einem kleinen Gebirgsfluß und aß drei wilde Stachelbeeren, die er am Ufer fand. Aber das half nicht viel.
Sie marschierten und marschierten. Der holprige Pfad verschwand. Die Büsche und das hohe Gras zwischen den Felsbrocken, die von Kaninchen abgefressenen Rasenflecke, der Thymian, die Salbei, der Majoran und die gelben Felsenrosen, alles blieb zurück, und plötzlich standen sie hoch oben an einem breiten, steilen Hang aus losem Geröll, dem überbleibsel eines Erdrutsches. Als sie mit dem Abstieg begannen, rollten Schutt und Kiesel unter ihren Füßen weg. Bald kamen krachend die größeren Gesteinsbrocken hinterher und rissen andere Stücke mit. überall unter ihnen glitt und rollte es. Felsklötze wurden angestoßen und auf die Reise geschickt; sie krachten mit wehenden Staubfahnen und tosendem Lärm hinunter. Es dauerte nicht lange, und der ganze Hang über ihnen und unter ihnen schien in Bewegung geraten zu sein. Sie rutschten mit, fielen aufeinander, und das alles geschah in einem furchtbaren Tohuwabohu von scheppernden, rutschenden, krachenden Steinen, Schutt und Geröll.
Die Bäume unten retteten sie. Sie schlitterten nämlich bis zum Rand eines Kiefernwaldes, der von den tief unten gelegenen, dunklen Talwäldern bis zum Steilabfall hinaufreichte. Einige fanden Halt an den Stämmen und schwangen sich in die unteren Zweige, andere (wie der kleine Hobbit) fanden hinter einem Baum Schutz gegen den Steinschlag. Bald war die Gefahr vorbei, der Bergrutsch hatte aufgehört, und es war nur noch ein letztes, schwaches Aufkrachen zu vernehmen, wenn die schwersten Brocken des aufgestörten Gesteins durch das Farnkraut und über die Kiefernwurzeln tief unten bumsten und wirbelten.
»Schön, das hat uns ein gutes Stück weitergebracht«, sagte Gandalf. »Und selbst Orks, die hinter uns her sind, dürften Mühe haben, hier leise herunterzukommen.«
»Das nehme ich auch an«, brummte Bombur. »Aber sie werden es nicht schwer finden, uns ein paar Bumser auf den Kopf fallen zu lassen.«
Die Zwerge (und mit ihnen Bilbo) fühlten sich keineswegs wohl. Sie rieben ihre zerschundenen und zerschlagenen Beine und Füße.
»Unsinn! Wir müssen uns sofort seitwärts wenden, weg vom Steinschlag, und wir müssen uns beeilen.«
Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden.
Schon wurden die Schatten tief, obgleich man durch die Bäume und über die Wipfel der tiefer stehenden Kiefern hinweg weit in der Ferne den Abendschein auf den Ebenen jenseits sehen konnte.
So rasch es ihnen möglich war, humpelten sie die sanften Hänge eines Kiefernwaldes hinunter, einen schräglaufenden Pfad entlang, der geradewegs nach Süden führte. Zuweilen durchquerten sie ein richtiges Meer von Farnkräutern, deren hohe Wedel bis über Bilbos Kopf ragten, zuweilen wanderten sie völlig lautlos über einen dicken Teppich von Kiefernnadeln. Und während der ganzen Zeit wurde die Waldesdämmerung immer schwerer und die Waldesstille immer tiefer. An diesem Abend wehte kein Lüftchen, so daß nicht mal das leiseste Seufzen in den Baumkronen zu hören war.
»Müssen wir immer noch weiter?« fragte Bilbo, als es so dunkel geworden war, daß er gerade noch Thorins Bart neben sich fliegen sah, und so still, daß ihm das Atmen der Zwerge wie ein lautes Blasen vorkam. »Meine Zehen sind wund und krumm, meine Beine tun weh, und mein Magen beutelt sich wie ein leerer Sack.«
»Noch ein bißchen weiter«, sagte Gandalf Das bißchen kam ihnen wie ein halbes Weltalter vor, aber dann gelangten sie plötzlich an einen offenen Fleck, wo keine Bäume wuchsen. Der Mond war aufgegangen und schien auf die Lichtung herab. Irgendwie kam es allen vor, als ob es kein guter Platz wäre, obgleich nichts Verdächtiges zu sehen war.
Plötzlich hörten sie unten am Hügel ein Heulen, ein langes, schauerliches Heulen. Es wurde von einem andern Geheul an ihrer rechten Seite beantwortet, ihnen schon ein gutes Stück näher gerückt, und dann von einem, das von links und ganz aus der Nähe kam. Es waren Wölfe, die den Mond anheulten, Wölfe, die sich versammelten!
Zu Hause, in der Nähe von Mister Beutlins Höhle, gab es keine Wölfe. Aber Bilbo kannte das Heulen.
Er hatte es oft genug in Geschichten beschrieben gefunden. Einer seiner älteren Vettern (einer von der Tukseite), der ein großer Weltreisender war, ahmte es zuweilen nach, um ihn zu erschrecken. Es aber aus dem finsteren Wald unter dem weißen Mondlicht zu hören – das war zuviel für Bilbo. Selbst Zauberringe nützen nicht viel bei Wölfen, besonders nicht bei jenem üblen Pack, das im Schatten des von Orks besetzten Gebirges lebte, jenseits der Einödgrenze an den Ufern des Unbekannten. Wölfe dieser Art wittern schärfer als Orks. Um euch zu fangen, brauchen sie euch nicht erst zu sehen!
»Was sollen wir machen, was sollen wir bloß machen!« schrie Bilbo. »Den Orks entwischt, um von den Wölfen geschnappt zu werden!« rief er, und es wurde zu einem Sprichwort, obgleich wir heute bei ähnlich unangenehmen Situationen sagen: Raus aus der Bratpfanne, rein ins Feuer!
»Hinauf in die Bäume, rasch befahl Gandalf, und sie rannten zu jenen Bäumen am Rand der Lichtung, die niedrige Äste besaßen oder so schlank waren, daß man sie leicht erklettern konnte. Sie fanden sie schneller als jemals sonst, das könnt ihr euch vorstellen, und sie kletterten so hoch hinauf, wie sie es den Ästen gerade noch zumuten konnten. Ihr würdet laut gelacht haben (aus sicherer Entfernung), wenn ihr die Zwerge mit ihren herabbaumelnden Bärten in den Bäumen hättet hocken sehen, wie alte übergeschnappte Herren, die Schulbuben spielten. Fili und Kili saßen in der Krone einer hohen Lärche, die wie ein enormer Weihnachtsbaum aussah. Dori, Nori, Ori, Oin und Gloin saßen ein wenig bequemer in einer stämmigen Kiefer mit regelmäßigen, in Zwischenräumen wie Speichen herausragenden Ästen. Bifur, Bofur, Bombur und Thorin saßen in einer anderen Kiefer. Dwalin und Balin hatten eine hohe Fichte erklettert, die nur wenige Äste besaß, und nun versuchten sie, einen Sitzplatz im Grün des Wipfels zu finden.
Gandalf, der ein gutes Stück größer war als alle anderen, hatte einen Baum gefunden, in den keiner hätte klettern können, eine mächtige Kiefer, die genau am Rand der Lichtung stand. Er war fast ganz verborgen im Astwerk. Aber als er nun herausspähte, hättet ihr sehen können, wie seine Augen im Mondlicht schimmerten.
Und Bilbo? Er konnte überhaupt auf keinen Baum hinauf und hüpfte von Stamm zu Stamm wie ein Kaninchen, das sein Loch verloren hat und hinter dem ein Hund her ist.
»Ihr habt schon wieder den Meisterdieb verloren«, sagte Nori zu Dori und schaute hinab.
»Auf meinem Rücken kann ich nicht immer Meisterdiebe spazierentragen«, erwiderte Dori. »Stollen hinunter und Bäume hinauf! Für wen haltet Ihr mich eigentlich? Bin ich Gepäckträger?«
Читать дальше