Nach einer Weile begann Gollum vergnügt sich selbst zuzuzischen. »Ist es hübsch, mein Schatzzz? Ist es sssaftig? Knirrrscht es nicht köstlich?« Und dann begann er Bilbo aus der Finsternis anzustarren.
»Einen halben Augenblick«, sagte der Hobbit zitternd. »Ich gab Euch eben auch eine sehr lange Chance.«
»Rasch, rasch!« sagte Gollum und fing an, aus seinem Boot ans Ufer zu klettern, um sich an Bilbo heranzumachen. Aber als er seinen großen Fuß mit den Schwimmhäuten ins Wasser setzte, sprang vor Angst ein Fisch heraus und fiel Bilbo auf die Zehen.
»Uff«, sagte Bilbo, »das ist ja kalt und klamm. Und da hatte er die Lösung des Rätsels. »Ein Fisch! Ein Fisch!« rief er. »Es ist ein Fisch!«
Gollum war schrecklich enttäuscht, aber Bilbo Beutlin platzte mit einem anderen Rätsel heraus, so schnell er nur konnte, und Gollum mußte in sein Boot zurücksteigen, um besser nachdenken zu können.
»Keinbein lag auf Einbein,
Zweibein saß auf Dreibein,
Vierbein ging auch nicht leer aus.«
Es war wirklich nicht die rechte Zeit für ein solches Rätsel, aber Bilbo war in Eile. Falls er es zu einer anderen Zeit gestellt hätte, dann, ja dann hätte Gollum vielleicht einige Schwierigkeiten gehabt, es zu raten. Aber da sie gerade von Fisch gesprochen hatten, war »Keinbein« wirklich nicht schwer – und folglich war auch der Rest leicht. »Fisch auf einem kleinen Tisch, ein Mensch vor dem Tisch auf einem Stuhl, und die Katze hat die Gräten« – so lautet natürlich die Antwort, und Gollum ließ damit nicht lange auf sich warten. Aber jetzt ist es Zeit, dachte er, etwas furchtbar Schweres zu fragen. Und dies war sein Rätsel:
»Etwas, das alles und jeden verschlingt:
Baum, der rauscht, Vogel, der singt,
frißt Eisen, zermalmt den härtesten Stein,
zerbeißt jedes Schwert, zerbricht jeden Schrein,
schlägt Könige nieder, schleift ihren Palast,
trägt mächtigen Fels fort als leichte Last.«
Der arme Bilbo saß im Dunkeln und dachte an all die schrecklichen Riesen und Ungeheuer, von denen er jemals in alten Sagen gehört hatte – aber nicht einer von ihnen hatte all diese furchtbaren Taten vollbracht. Er hatte das Gefühl, daß die Antwort ganz anders lauten und daß er sie eigentlich wissen müßte, aber er konnte nicht daraufkommen. Bilbo begann sich zu fürchten, und das ist schlecht fürs Nachdenken. Schon kroch Gollum wieder aus seinem Boot, platschte ins Wasser und schob sich aufs Ufer. Bilbo konnte die Augen auf sich zukommen sehen. Seine Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben. Er wollte schreien: »Gebt mir mehr Zeit! Gebt mir mehr Zeit!« Aber alles, was mit einem plötzlichen Quieken dabei herauskam, war: »Zeit. Zeit!«
Durch einen Glücksfall war Bilbo gerettet. Denn »Zeit« war des Rätsels Lösung.
Gollum war wieder einmal enttäuscht, und jetzt wurde er böse, und das Spiel wurde ihm langweilig.
Es hatte ihn richtig hungrig gemacht, und diesmal ging er nicht zurück in das Boot. Er setzte sich im Dunkeln neben Bilbo nieder. Das war für den Hobbit schrecklich ungemütlich und brachte ihn schier um den Verstand.
»Es muß noch eine Frage sein, mein Schatz, gewiß, gewißß, gewißß. Noch eine Frage, gewiß, gewißß«, sagte Gollum.
Aber Bilbo gelang es nicht, eine Frage auszudenken, denn das schmutzige, nasse, kalte Wesen hockte neben ihm, betatschelte und beknuffte ihn. Er kratzte sich, er kniff sich, und noch immer fiel ihm nichts ein.
»Wass soll’s ssein, wass soll’s ssein?« sagte Gollum.
Bilbo kniff sich und schlug sich vor den Kopf. Er langte nach seinem kleinen Schwert. Dann griff er sogar mit der anderen Hand in die Tasche. Und dort fand er den Ring, den er im Gang aufgehoben und ganz vergessen hatte.
»Was habe ich da in meiner Tasche?« fragte er laut. Er sprach eigentlich zu sich selbst, aber Gollum dachte, es sei ein Rätsel, und war schrecklich aufgeregt.
»Das ist nicht fair!« zischte er. »Das ist nicht fair, nicht wahr, mein Schatz? Zu fragen, was das da in seiner garsstigen kleinen Taschsche hat?«
Als Bilbo merkte, daß Gollum diese Frage für ein Rätsel hielt, und weil er im Augenblick nichts Besseres wußte, blieb er dabei. »Was habe ich da in meiner Tasche?« sagte er noch lauter.
»Sssss«, zischte Gollum. »Es muß uns dreimal raten lassen, mein Schatz, dreimal!«
»Gut, schießt los«, erwiderte Bilbo.
»Seine Hände!« sagte Gollum.
»Falsch«, rief Bilbo, der glücklicherweise gerade seine Hand herausgezogen hatte. »Ratet weiter!«
»Sssss«, sagte Gollum und war aufgeregter denn je. Er dachte an alles, was er in seinen eigenen Taschen hatte: Fischgräten, Orkzähne, nasse Muscheln, ein Stückchen Fledermausflügel, einen scharfen Stein, mir dem er seine Krallen wetzte, und anderes ekliges Zeug. Er überlegte angestrengt, was andere Leute wohl in ihren Taschen haben könnten.
»Ein Messer!« sagte er schließlich.
»Falsch«, antwortete Bilbo, der sein Messer vor einiger Zeit verloren hatte. »Letztes Mal!«
Jetzt war Gollum viel aufgeregter als bei der Eierfrage. Er zischte und gurgelte und schaukelte vorwärts und rückwärts, patschte mit den Füßen auf den Boden, wand und krümmte sich. Aber er wagte nicht, die letzte Chance aufs Spiel zu setzen.
»Los«, sagte Bilbo. »Ich warte!« Es sollte kühn und munter klingen, aber er war gar nicht sicher, wie dieses Spiel enden würde, ob Gollum richtig riet oder nicht.
»Die Zeit ist vorbei!« sagte Bilbo.
»Schnur – oder gar nichts«, schrie Gollum, der nun nicht fair blieb, denn er versuchte es mit zwei Lösungen zugleich.
»Beides falsch!« rief Bilbo sehr erleichtert. Und er sprang sogleich auf die Füße, lehnte den Rücken an die nächste Wand und zog sein kleines Schwert heraus. Er wußte natürlich, daß das Rätselspiel heilig und auch sehr alt war und daß selbst verschlagene Wesen sich hüteten, beim Spiel zu betrügen. Aber er spürte, daß er diesem schleimigen Kerl nicht trauen konnte, denn würde er auch im Notfall sein Versprechen halten? Bestimmt wäre ihm jede Entschuldigung recht, wenn er sich drum herumdrücken könnte. Und schließlich war die letzte Frage kein echtes Rätsel im Sinne der alten Regeln.
Aber wie dem auch sei, Gollum griff ihn nicht sofort an. Er konnte das Schwert in Bilbos Hand sehen.
Er saß still, zitterte und flüsterte. Endlich konnte Bilbo nicht länger warten.
»Nun«, sagte er. »Wie ist das mit Eurem Versprechen? Ich möchte jetzt gehen. Ihr müßt mir den Weg zeigen.«
»Haben wir das gesagt, mein Schatz? Diesem häßlichen kleinen Beutlin den Weg hinaus zeigen, gewiß, gewiß. Aber was hat er in seinen Taschen, he? Keine Schnur, Schatz, aber nichts auch nicht. O nein, gollum!«
»Das braucht Euch jetzt nicht mehr zu kümmern«, sagte Bilbo. »Ein Versprechen ist ein Versprechen.«
»Verdrießlich ist der Kleine, Schatz, ist ungeduldig«, zischte Gollum. »Aber er muß warten, ja, das muß er. Wir können nicht so schnell die Gänge hinauf Wir müssen uns erst etwas holen, ja, erst etwas, das uns helfen kann.«
»Gut, aber schnell!« sagte Bilbo, erleichtert bei dem Gedanken, daß Gollum fortgehen wollte. Er nahm an, daß er nur eine Entschuldigung vorbrachte und gar nicht zurückkehren würde. Wovon hatte Gollum doch gesprochen? Was konnte er dort draußen auf dem dunklen See so Nützliches haben?
Aber er irrte sich. Gollum beabsichtigte durchaus, zurückzukehren. Er war jetzt wütend und hungrig.
Und er war ein elendes, verschlagenes Wesen, und seinen Plan hatte er längst.
Nicht weit weg lag seine Insel, von der Bilbo nichts wußte. Dort hatte er wertlosen Kram versteckt, darunter aber etwas ganz Wunderbares, eine Kostbarkeit: Es war ein Ring, ein goldener Ring, ein kostbarer Ring.
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