Llane war weiter vorgestürmt. Bei dem überlebenden Troll angekommen, schlug er seine Axt in dessen Seite. Die Bestie stieß ein Heulen aus, und Lothar ergriff seine Chance. Der Champion schmetterte den vorgestreckten Speer mit einem Rückhandschlag zur Seite, dann trennte er mit einem waagerechten, präzisen Hieb den Kopf des Trolls sauber von dessen Schultern. Wie ein Komet, eine Blutfontäne nach sich ziehend, flog der Schädel in weitem Bogen durch die Luft und landete im Gebüsch, wo er verschwand.
Obwohl Llane selbst aus einer Wunde blutete, schlug er Lothar auf die Schulter und schien ihn freundschaftlich zu verspotten, weil dieser für seinen Troll so lange gebraucht hatte. Dann legte Lothar eine Hand auf Llanes Brust, um ihn zum Schweigen zu bringen, und zeigte auf Medivh.
Der junge Magier stand noch immer beim Feuer. Er hielt seine Hände offen, doch seine Finger sahen aus wie Klauen. Seine Augen wirkten im Licht des Feuers glasig, und sein Mund war krampfhaft geschlossen. Als die beiden Männer (und der Geist Khadgar) auf ihn zu rannten, kippte der junge Zauberer nach hinten.
Das Paar erreichte Medivh, doch dieser atmete schwer, und seine Pupillen waren im hellen Mondlicht extrem geweitet. Die Krieger und der Besucher aus der Zukunft beugten sich über ihn, als der junge Magier versuchte, Worte aus seinem Mund zu pressen.
»Pass auf mich … auf«, sagte er und blickte weder Llane noch Lothar, sondern Khadgar an. Dann rollten die Augen des jungen Medivh nach oben, und er lag sehr still.
Lothar und Llane versuchten, ihren Freund wiederzubeleben, während Khadgar wie betäubt zurücktaumelte. Hatte Medivh ihn wirklich gesehen, wie jener andere Magier unter dem blutigen Himmel, der Medivhs Augen besessen hatte? Jedenfalls hatte Khadgar ihn zu sich sprechen hören, klare Worte, die in die Tiefe seiner Seele gedrungen waren.
Khadgar wandte sich um, und die Vision fiel in sich zusammen wie die letzten, ersterbenden Flammen eines Feuers. Er war wieder zurück in der Bibliothek und prallte fast mit Medivh zusammen.
»Mein Vertrauen«, sprach eine viel ältere Ausgabe des Magus als jene, die Khadgar gerade in seiner Vision auf dem Boden liegend zurückgelassen hatte. »Geht es dir gut? Ich rief nach dir, aber du hast nicht geantwortet.«
»Entschuldigt, Med … Herr«, sagte Khadgar und holte tief Luft. »Ich hatte eine Vision. Ich habe mich in ihr verloren, fürchte ich.«
Medivh zog die dunklen Brauen zusammen. »Noch mehr Orks und rote Himmel?«, fragt er ernsthaft, und Khadgar erkannte das Heraufziehen eines neuen Sturms in diesen grünen Augen.
Khadgar schüttelte den Kopf, wählte seine Worte sorgfältig. »Trolle. Blaue Trolle. Und es war ein Dschungel. Ich glaube, es war diese Welt. Der Himmel war gleich.«
Medivhs Sorge verschwand aus seinem Blick, und er sagte nur: »Dschungel-Trolle. Ich habe mal welche getroffen, tief im Süden, im Stranglethorn-Tal …« Die Gesichtszüge des Magiers wurden weich, als er sich nun selbst in einer ganz privaten Vision zu verlieren schien. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber dieses Mal kein Orks, richtig? Du bist dir sicher.«
»Ja, Herr«, sagte Khadgar. »Keine Orks.« Er wollte nicht erwähnen, dass er Zeuge eines Kampfes geworden war. War es eine böse Erinnerung für Medivh? War er bei dieser Konfrontation im Koma versunken?
Khadgar betrachtete den älteren Magier und erkannte in ihm viel von dem jungen Mann aus der Vision wieder. Er war größer, aber leicht gebeugt von den Jahren und seinen Forschungen. Trotzdem war da noch immer der junge Mann, eingewoben in die ältere Gestalt.
Medivh seinerseits fragte: »Hast du das ›Lied der Aegwynn‹?«
Khadgar löste sich aus seinen Gedanken. »Das Lied?«
»Über meine Mutter«, sagte Medivh. »Es sollte eine alte Schriftrolle sein. Ich schwöre dir, ich finde hier nichts mehr, seit du aufgeräumt hast!«
»Sie liegt bei den anderen Epen, Herr«, sagte Khadgar. Ich sollte ihm von der Vision erzählen , dachte er. War dies eine willkürliche Heimsuchung gewesen, oder war sie durch seine Begegnung mit Lothar ausgelöst worden? Wurden Visionen dadurch wachgerufen, dass man etwas über bestimmte Dinge herausfand?
Medivh trat an das Regal und ließ einen Finger an den Schriftrollen entlang laufen. Dann zog er die gesuchte Rolle heraus. Sie war alt und sehr zerlesen. Der Magus rollte sie teilweise auf, verglich sie mit einem Fetzen Papier, den er aus einer Tasche zog, rollte sie wieder zusammen und legte sie zurück.
»Ich muss fort«, sagte er plötzlich. »Schon heute Abend, fürchte ich.«
»Wohin geht Ihr?«, fragte Khadgar.
»Dieses Mal gehe ich allein«, sagte der Magier, der bereits auf die Tür zuschritt. »Ich werde Moroes Anweisungen, deine Studien betreffend, hinterlassen.«
»Wann kommt Ihr zurück?«, rief Khadgar der sich entfernenden Gestalt hinterher.
»Wenn ich zurückkomme!«, entgegnete Medivh, während er zwei Stufen gleichzeitig nehmend die Treppe hinauf stürmte. Khadgar nahm an, dass der Kastellan schon in der Spitze des Turms wartete und die Runenpfeife und einen zahmen Greifen bereithielt.
»Gut«, sagte Khadgar und blickte auf die Bücher. »Ich bleib dann also hier und versuche herauszufinden, wie man ein Stundenglas zu beherrschen lernt.«
Medivh blieb eine ganze Woche fort, und es war eine Woche, die Khadgar gut nutzte. Er richtete sich in der Bibliothek ein und ließ sich das Essen von Moroes dorthin bringen. Häufig kehrte er nicht einmal nachts in sein Quartier zurück und schlief stattdessen lieber auf einem der großen Tische der Bibliothek.
Er suchte nach Visionen.
Seine eigene Korrespondenz blieb unbeantwortet, während er die alten Bücher und Grimoires nach Antworten auf seine Fragen über Zeit, Licht und Magie durchforstete. Auf seine ersten Berichte waren schnelle Antworten der Magier der Violetten Zitadelle erfolgt. Guzbah wollte eine Abschrift des Epos über Aegwynn. Lady Delth erklärte, sie kenne keinen der Titel, die er ihr geschickt hatte. Konnte er sie ihr noch einmal schicken, dieses Mal mit dem ersten Absatz eines jeden Buches, damit sie sie vielleicht doch noch wiedererkennen konnte? Und Alonda bestand weiterhin darauf, dass es eine fünfte Troll-Rasse gab, und dass Khadgar offensichtlich nicht die richtigen Bestiarien zu Rate gezogen hatte. Der junge Magier ließ, während er einen Weg suchte, die Visionen zu kontrollieren, die Gesuche unerwidert.
Der Schlüssel zu seiner Beschwörung, so schien es, würde ein einfacher Fernsicht-Zauber sein, ein Wahrsage-Ritus, der einen Blick auf ferne Gegenstände und Orte erlaubte. Ein Buch mit priesterlicher Magie hatte ihn als eine Beschwörung heiliger Gesichte beschrieben, doch er funktionierte für Khadgar ebenso gut wie für die Kleriker. Obwohl dieses priesterliche Ritual für den Raum gedacht war, konnte man es mit ein paar Modifikationen vielleicht auch auf die Zeit anwenden. Normalerweise, und wenn man den Fluss der Zeit in einem determinierten Uhrwerk-Universum voraussetzte, war dies unmöglich.
Doch es schien, als sei zumindest in den Mauern von Karazhan die Zeit ein Stundenglas, und es war durchaus möglich, hier Splitter losgelöster Zeit aufzuspüren. Und sobald man ein Sandkorn der Zeit in seinen Griff gebracht hatte, sollte es leichter fallen, sich von einem Korn zum anderen zu bewegen.
Falls andere dies innerhalb der Mauern von Medivhs Turm bereits versucht haben sollten, so fand sich kein Hinweis darauf in der Bibliothek – außer vielleicht in den am besten gehütetsten oder unleserlichsten Büchern, die sich auf dem eisernen Balkon befanden. Seltsamerweise waren die Notizen in Medivhs eigener Handschrift nicht an den Visionen interessiert, während sie die Niederschriften anderer Besucher zu beherrschen schienen. Hielt Medivh diese Informationen an einem anderen Ort versteckt, oder war er tatsächlich stärker an Dingen interessiert, die sich außerhalb der Mauern des Turms abspielten, als an den Aktivitäten in dessen Innern?
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