»Aber …«
»Kein Aber«, sagte Medivh, erhob sich aus seinem Sessel und stellte seine leere Tasse auf das Kaminsims. »Jetzt, da du ein wenig Wein gekostet hast, wollen wir doch mal sehen, ob deine magische Kontrolle davon beeinflusst wird. Lass meinen Becher schweben.«
Khadgar zog seine Brauen zusammen und erkannte, dass seine Zunge bereits etwas schwer war. »Aber wir haben getrunken.«
»Genau«, sagte der Meistermagier. »Du weißt niemals, welchen Sand dir das Universum ins Gesicht werfen wird. Du kannst entweder versuchen, ständig wachsam und bereit zu sein, und so das Leben, wie wir es kennen, meiden. Oder du bist bereit, das Leben zu genießen und den Preis dafür zu zahlen. Und nun lass den Becher schweben.«
Khadgar erkannte erst jetzt, wie viel er getrunken hatte. Er versuchte, das breiige Gefühl aus seinem Gehirn zu vertreiben und den schweren Porzellanbecher vom Kaminsims zu heben.
Wenige Sekunden später war er auf dem Weg zur Küche, um einen Besen und eine Kehrschaufel zu holen.
Abends gehörte Khadgars Zeit ihm selbst, und er konnte üben und forschen, während Medivh sich anderen Dingen widmete. Khadgar fragte sich, was diese anderen Dinge wohl sein mochten, aber er nahm an, dass Korrespondenz dazu gehörte, denn zweimal pro Woche erschien oben auf dem Turm ein Zwerg auf einem Greif. Er trug einen kleinen Sack bei sich, der sich erheblich vergrößert hatte, wenn er ging.
Medivh gab dem Jungen alle Freiheit in der Bibliothek, um seine Studien so zu betreiben, wie er selbst es für richtig befand, und dazu gehörte es auch, die Unmengen von Wünschen zu berücksichtigen, die ihm seine früheren Meister aus der Violetten Zitadelle mitgegeben hatten.
»Ich verlange nur«, sagte Medivh lächelnd, »dass du mir zeigst, was du schreibst, bevor du es ihnen schickst.« Khadgar musste zu erkennen gegeben haben, wie peinlich ihm dies war, denn Medivh fügte hinzu: »Nicht, weil ich Angst hätte, dass du etwas vor mir verbirgst, mein Vertrauen, sondern weil ich es hassen würde, wenn sie etwas erfahren, das ich selbst inzwischen vergessen habe.«
Also stürzte sich Khadgar auf die Bücher. Für Guzbah fand er eine alte, häufig gelesene Schriftrolle mit einem epischen Gedicht, dessen nummerierte Strophen sehr detailliert einen Kampf zwischen Medivhs Mutter Aegwynn und einem nicht namentlich benannten Dämon wiedergaben. Für Lady Delth fertigte er eine Liste der verrottenden Elfen-Bücher in der Bibliothek an. Und für Alonda tauchte er in jene Bestiarien hinab, die er lesen konnte. Aber es half nichts. Er konnte die Anzahl der Troll-Rassen nicht über die Vier hinausführen.
Khadgar verbrachte seine Freizeit auch mit seinen falschen Schlüsseln und seinen persönlichen Öffnungszaubern. Er versuchte weiterhin, jene Bücher zu meistern, die seinen früheren Versuchen, ihre Siegel zu knacken, widerstanden hatten. Diese Bände besaßen eine starke Magie, und er verbrachte manchmal ganze Abende mit Wahrsage-Riten, bevor er auch nur den geringsten Hinweis darauf erhielt, welche Art von Zauber ihren Inhalt schützte.
Zuletzt war da noch die Sache mit dem Wächter. Medivh hatte dieses Thema angeschnitten. Lord Lothar hatte angenommen, der Magus habe den jungen Mann darüber aufgeklärt, und der Champion des Königs hatte sich schnell zurückgezogen, als er erkannte, dass dem nicht so war.
Der Wächter, so schien es, war ein Phantom, nicht realer als die in der Zeit verlorenen Visionen, die durch den Turm strichen. In einem Elfen-Buch wurde gelegentlich beiläufig ein Wächter erwähnt, wenn es um die Geschichte der Königsfamilien von Azeroth ging. Bei dieser Hochzeit oder bei jener Beerdigung war ein Wächter zugegen gewesen, und manchmal führte er die Vorhut in irgendeiner Schlacht an. Stets gegenwärtig, doch niemals genau identifiziert. War dieser Wächter ein Titel oder, wie Medivhs angeblich fast unsterbliche Mutter, ein bestimmtes Wesen?
Es gab noch andere Phantome, die ebenfalls im Orbit um diesen Wächter kreisten. Eine Art Orden, eine Organisation. War der Wächter ein heiliger Ritter? Und das Wort »Tirisfal« war an den Rand eines Grimoires geschrieben und dann ausradiert worden. Doch Khadgars besondere Geschicklichkeit im Aufspüren von Geheimnissen erlaubte es ihm herauszufinden, was einst dort geschrieben stand, indem er der Spur der Feder folgte, die sich in das Pergament eingedrückt hatte. Der Name eines bestimmten Wächters? Oder einer Organisation? Oder etwas vollkommen anderes?
Es war an dem Abend, als Khadgar dieses Wort fand, vier Tage nach dem Vorfall mit dem Becher, dass der junge Mann in eine weitere Vision stürzte. Beziehungsweise die Bilder schlichen sich an ihn heran , umzingelten und verschlangen ihn mit Haut und Haaren!
Zuerst kam der Geruch, eine weiche, pflanzliche Wärme gesellte sich zu den verfallenden Texten der Bibliothek, ein tiefgrüner Duft, der sich langsam in dem Raum erhob. Die Hitze darin nahm zu, nicht unangenehm, jedoch wie eine warme, feuchte Zudecke. Die Wände wurden dunkler und verwandelten sich in Grün. Ranken krochen an den Seiten der Regale empor, schlängelten sich durch die dort befindlichen Bücher und ersetzten sie, während sie breite, dicke Blätter ausbildeten. Große, bleiche Mondblumen und rote Orchideen begannen zwischen aufgestapelten Schriftrollen zu sprießen.
Khadgar sog tief den Atem ein, doch eher vor erregter Erwartung denn vor Furcht. Dies war nicht die Welt des blutroten Himmels und der Ork-Armeen, die er zuvor gesehen hatte. Dies war etwas anderes. Er befand sich in einem Dschungel, aber es war ein Dschungel auf dieser Welt. Der Gedanke beruhigte ihn.
Und dann verschwand auch der Tisch, an dem Khadgar gesessen, das Buch, in dem er gelesen hatte, und Khadgar hockte an einem Lagerfeuer. Drei weitere junge Männer saßen hier. Sie schienen in etwa in seinem Alter zu sein und sich auf einer Art Expedition zu befinden. Schlafdecken waren ausgelegt worden, und ein Kochtopf, leer und bereits gewaschen, trocknete am Feuer. Alle drei trugen die Kleidung von Reitern; sie war gut geschnitten und offensichtlich von erlesener Qualität.
Die drei jungen Männer lachten und scherzten, doch wie zuvor konnte Khadgar die genauen Worte nicht verstehen. Der Blonde in der Mitte war gerade dabei, eine Geschichte zu erzählen, und nach den Bewegungen seiner Hände zu urteilen, ging es darin um eine wohl proportionierte Frau.
Der Mann zu seiner Rechten lachte und schlug sich auf die Knie, während der Blonde mit seiner Geschichte fortfuhr. Der andere strich sich mit den Fingern durchs Haar, und Khadgar bemerkte, dass es bereits aus der Stirn zurückwich. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er auf Lord Lothar blickte. Augen und Nase waren seine, das Lächeln war seines – nur das Gesicht war noch nicht wettergegerbt und der Bart noch nicht grau. Aber er war es.
Khadgar betrachtete den dritten Mann und erkannte sofort den jungen Medivh. Dieser trug dunkelgrüne Jäger-Tracht und einen Umhang, dessen Kapuze zurückgezogen war und ein junges, fröhliches Gesicht enthüllte. Seine Augen leuchteten im Licht des Lagerfeuers wie polierter Jadestein, und er bedachte die Geschichte des Blonden mit einem schüchternen Lächeln.
Der Blonde in der Mitte erreichte offenbar einen bestimmten, wichtigen Punkt in seiner Geschichte und gestikulierte in Richtung des jungen Medivh, der mit den Schultern zuckte und dem die Situation offensichtlich peinlich war. Es schien, als spiele auch der zukünftige Magier eine Rolle in der Erzählung.
Der Blonde musste Llane sein, jetzt König Llane von Azeroth. Ja, die Geschichten über die frühen Abenteuer der drei Männer hatten ihren Weg sogar in die Archive der Violetten Zitadelle gefunden. Die drei wanderten oft an den Grenzen des Königreichs, erforschten die wenig bekannten Länder und bekämpften alle Arten von Räubern und Monstern.
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