Doch der Magier sagte nur ruhig. »Nicht irgendeinen, sondern den Baum.«
Es wurde eine Zeremonie, die auch Illidans schreckliche Taten abmildern sollte. Den Zauberer brachte man weg, um weitere Zwischenfälle zu vermeiden. Jarods Schwester erklärte sich bereit, ihn zu bewachen, bis sein Schicksal beschlossen war. Jarod, den Shandris und Maiev geheilt hatten, bestand darauf, diese Entscheidung gemeinsam mit Malfurion zu fällen, sobald die Zeit reif war.
Abgesehen von Krasus, Rhonin und den Drachen nahmen nur Nachtelfen an der Zeremonie teil. Das Geschenk der Aspekte war nur für ihr Volk gedacht, das so sehr gelitten hatte und mit solcher Sorge in die Zukunft blickte. Adlige, Hochgeborene und die Angehörigen der ehemals niedrigen Kasten hatten sich versammelt. Die anderen Überlebenden waren am Fuß des Berges zurück geblieben. Sie bekamen nichts mit von dem feierlichen Akt, wussten aber, dass er auch ihr weiteres Leben beeinflussen würde.
»Malfurion und die anderen, die man dazu eingeladen hatte, reisten zur Mitte des Sees. Trotz der Höhe des Gipfels war es recht warm, wahrscheinlich eine Nebenwirkung der magischen Aufladung.«
»Er ist wunderschön«, flüsterte Tyrande.
»Wenn das doch nur alles wäre«, antwortete Malfurion düster. Er hatte sich bereits Gedanken über das Schicksal seines Bruders gemacht, und es schmerzte ihn, diese Entscheidung treffen zu müssen. Aber es war klar, dass man Illidan nicht mehr länger vertrauen konnte. In seinem Wahnsinn hatte er andere getötet. Sein Glaube an eine zweite Invasion und die Annahme, dass sich die Nachtelfen nur mit einem neuen Brunnen davor schützen könnten, war keine Rechtfertigung für seine schrecklichen Verbrechen.
Die Nachtelfen waren immer noch Wesen der Dunkelheit, auch wenn sie sich daran gewöhnt hatten, ihre Schlachten bei Tage zu führen. Trotzdem hatten die Drachen und Jarod beschlossen, sich zur Mittagszeit zu treffen. Alexstrasza hatte erklärt, dass die Sonne im Zenit wichtig für ihre Zeremonie sei, und der Nachtelf wollte sich mit den Riesen nicht streiten.
Die Insel war relativ groß, aber auf ihr wuchs nur hohes Gras. In ihrer Mitte stellte sich die Gruppe nach Alexstraszas Anweisungen auf. Die Drachen nahmen eine Position ein, die sich ihren Angaben zufolge genau im Zentrum der Insel befand. Nur eine kleine Lücke blieb zwischen ihnen frei.
Der Aspekt des Lebens eröffnete die Zeremonie. »Kalimdor hat sehr gelitten«, begann Alexstrasza. Die Gruppe nickte. Ernst fuhr sie fort: »Und die Nachtelfen mehr als alle anderen. Euer Volk war an der Katastrophe zwar nicht unbeteiligt, aber der Leidensweg, der hinter euch liegt, gleicht diese Schuld aus.«
Einige warfen den Hochgeborenen unsichere Blicke zu, aber niemand widersprach.
Alexstrasza öffnete ihre Klauen. Auf ihrer Handfläche lag ein Samenkorn, so winzig wie ein Säugling. Malfurion spürte ein Kribbeln, als er es betrachtete.
»Es stammt von G’hanir, dem Mutterbaum«, erklärte die Drachenkönigin.
Der Druide wusste, dass es sich dabei um die Heimat der toten Halbgöttin Aviana handelte.
»G’hanir existiert nicht mehr, er starb gemeinsam mit seiner Herrin. Aber dieses Samenkorn hat überlebt. Daraus werden wir einen neuen Baum erschaffen.«
Nozdormu holte mit seiner Klaue aus und grub ein Loch, das perfekt für das Samenkorn geeignet war. Sanft legte es Alexstrasza hinein, dann bedeckte Ysera es mit Erde.
Die drei Aspekte blickten zur Sonne. Dann neigten sie ihre Köpfe dem eingepflanzten Samenkorn entgegen.
»Ich schenke den Nachtelfen Stärke und ein gesundes Leben, so lange dieser Baum steht«, verkündete Alexstrasza.
Eine sanfte rote Aura verließ sie und senkte sich auf die Erde hinab. Gleichzeitig wurde das Sonnenlicht über der Insel heller. Die Strahlen breiteten sich über dem See nach allen Himmelsrichtungen aus. Einige Nachtelfen wichen nervös zurück, aber niemand sagte etwas.
Eine wundervolle Wärme durchströmte Malfurion. Er ergriff Tyrandes Hand. Sie entzog sie ihm nicht, sondern erwiderte seinen Druck.
Bewegung kam in dem kleinen Erdhügel auf. Dreck wurde zur Seite gestoßen, so als versuche eine winzige Kreatur, das Sonnenlicht zu erreichen.
Aus der Saat spross ein kleiner, junger Baum. Er wuchs, bis er eine Höhe von etwa einem Meter erreichte und sich an seinem Stamm Äste gebildet hatten. Dichtes grünes Laub formte seine Krone.
Alexstrasza zog sich zurück. Nozdormu meldete sich leicht zischend zu Wort. »Die Zeit wird wieder auf Seiten der Nachtelfen sssein, denn ich schenke ihnen auch weiterhin die Unsterblichkeit, ssso lange der Baum steht. Mögen sssie die Zeit zum Lernen nutzen …«
Eine goldene Aura verband sich mit dem Sonnenlicht und floss in die Erde.
Der Baum wuchs erneut. Doppelt so groß wie ein Nachtelf war er jetzt. Die Zuschauer starrten mit offenen Mündern auf dieses Schauspiel. Sein Laub wurde immer dichter und grüner. Die Äste wurden dicker und zeugten von der Stärke und der Gesundheit dieses Baums. Die Wurzeln dehnten sich aus und stießen aus der Erde hervor. Unter ihnen entstand ein Hohlraum, der so groß war, dass sich mehrere Nachtelfen hätten hineinsetzen können.
Nozdormu nickte zufrieden und zog sich zurück. Nur Ysera stand jetzt noch dort.
Mit geschlossenen Augen betrachtete der Drache den Baum. Trotz seines rapiden Wachstums überragten ihn die Drachen um Längen.
»Den Nachtelfen, die ihre Hoffnung verloren haben, schenke ich die Fähigkeit des Träumens. Sie sollen träumen und Fantasie haben, denn nur so werden sie sich erholen, wachsen und einen Neuanfang wagen können.«
Es sah aus, als wolle auch sie einen Teil ihrer Aura spenden, doch dann wandte sie sich Malfurion zu. »Und denen, die dem Pfad desjenigen folgen, der bei mir und den meinen einen besonderen Platz einnimmt, schenke ich die Gabe des Smaragdgrünen Traums . Alle Druiden sollen in der Lage sein, ihn zu erreichen. Selbst in tiefem Schlaf werden sie diese Welt betreten können und von ihr lernen. So werden sie imstande sein, Kalimdors Sicherheit und Wohlergehen auch in Zukunft zu bewahren.«
Malfurion schluckte. Zu einer anderen Reaktion war er nicht in der Lage. Die Umstehenden sahen ihn an. Sogar Tyrande drückte stolz seine Hand.
Ysera wandte sich wieder dem Baum zu. Ein grüner Nebel stieg aus ihr auf. Auch ihr Geschenk verband sich mit dem Sonnenlicht und hüllte den Baum ein. Erst dann verschwand der Nebel im Boden.
Die Zuschauer spürten, wie die Erde erbebte. Malfurion trat mit Tyrande ein Stück zurück, und die anderen folgten seinem Beispiel wenig später. Sogar die Drachen wichen zurück, wenn auch nicht so weit wie die kleineren Wesen.
Der Baum wuchs. Höher und höher strebte er dem Himmel entgegen, bis Malfurion glaubte, dass selbst diejenigen, die im Tal geblieben waren, seine ausladende mächtige Krone zu sehen vermochten. Sie war so groß, dass alles in ihrem Schatten hätte liegen müssen, aber irgendwie drang das Sonnenlicht doch bis zum Boden durch und glitzerte auf dem Wasser des Sees.
Die Wurzeln dehnten sich ebenfalls aus, um den riesigen Baum zu stützen. Sie ragten so hoch in die Luft, das man eine ganze Festung unter ihnen hätte erbauen können. Und noch immer wuchs der Baum.
Als er schließlich aufhörte, wirkten selbst die Drachen klein wie Vögel. Sie hätten sich in seiner Krone verstecken können.
»Vor euch steht Nordrassil. Der Weltenbaum ist erschaffen worden«, erklärte der Aspekt des Lebens feierlich. »So lange er steht, so lange die Nachtelfen ihn ehren, wird das Glück auf ihrer Seite sein. Ihr werdet euch verändern, ihr werdet unterschiedlichen Pfaden folgen, aber ihr werdet immer ein Teil Kalimdors sein.«
Krasus stand auf einmal hinter Malfurion. Flüsternd sagte er zu dem Druiden: »Und der Baum, dessen Wurzeln tief in den Boden ragen, wird dafür sorgen, dass sich der See nicht verändert. Die Sonne wird stets ein Teil dieses Brunnens sein. Die schwarzen Wasser wird es hier nicht geben.«
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