Krasus hatte lange über die Möglichkeit nachgedacht, die Dämonenseele bereits hier in der Vergangenheit zu zerstören. Aber er befürchtete, dass diese gewaltige Veränderung die Zeitlinie endgültig zerrissen hätte. Es war besser, wenn die Drachen sie auf jene Weise bekamen, wie er es vorhatte. Vielleicht würde dann die Geschichte ihren geplanten Lauf nehmen – sollte das überhaupt noch möglich sein.
Deathwing kam näher und näher. Der Schwarze wollte wohl sichergehen, dass sein vernichtender Stoß auch traf.
Gleich , dachte der Magier. Er spannte sich an.
Hinter sich hörte er, wie sein Verfolger einatmete, sich auf den Feuerstrahl vorbereitete.
Krasus biss die Zähne zusammen.
Es zischte – und der Boden, auf dem der Magier gerade noch gestanden hatte, wurde von dampfender, flüssiger Lava verschlungen.
Der Erdwächter erhob sich mit einem irren Lachen in die Lüfte. Er kreiste über einer Landschaft voller rot glühender Felsen. Die magischen Kräfte, die jedem Feuerstoß innewohnten, überlagerten die Aura der Scheibe, aber Neltharion hatte es nicht eilig, sie zu finden.
Er genoss den Tod des mysteriösen Drachenmagiers, dieses Schoßhundes von Alexstrasza, der seine Pläne beinahe vereitelt hätte. Es war schade, dass nichts von ihm übrig geblieben war. Der schwarze Drache hätte Alexstrasza gern ein Andenken an ihn überreicht, bevor er sie zu seiner Geliebten machte. Neltharion hatte gespürt, wie nahe sie einander standen, beinahe so, als wäre Krasus auf einer Stufe zu sehen mit dem unverschämten und aufmüpfigen Korialstrasz.
Doch wirklich wichtig war, dass er endlich tot war und die Scheibe bald wieder in seine Hände fallen würde. Er brauchte nur noch ein wenig Geduld zu zeigen. Die Seele musste ganz in der Nähe sein, war vermutlich irgendwo unter der Lava begraben und wartete darauf, wieder mit ihm vereint zu werden.
Ein kleiner, nagender Zweifel störte seine Freude. Neltharion dachte an die List, die sein Opfer bewiesen hatte und an die Tücke, mit der sie die Scheibe an sich gebracht hatten.
Langsam glitt er über die zerstörte Landschaft und suchte im Chaos der tobenden Energien nach seiner Schöpfung. Er spürte die Scheibe immer noch nicht, aber sie musste hier irgendwo sein.
Sie musste doch hier irgendwo sein …
Krasus materialisierte sich in einiger Entfernung. Die Hitze von Deathwings Angriff konnte er selbst bis hierher spüren. Er ließ sich zu Boden sinken. Ihm war klar, dass er auch dieses Mal nicht so weit geflohen war, wie er es beabsichtigt hatte.
Er hoffte, dass der schwarze Drache ihn für tot hielt und die Dämonenseele unter der Lava vermutete. Krasus war selbst ein Drache und kannte die Energien, die bei jedem Angriff ausgespien wurden. Der Aspekt würde eine Weile brauchen, bis er erkannte, dass seine Suche vergeblich war. Das war gut so, denn mit jeder Minute stiegen die Chancen von Malfurion und Brox.
Aber auch Krasus zog einen Vorteil aus der Pause, denn nun konnte er genügend Kräfte sammeln, um sich magisch zu seinen Gefährten zu versetzen. Es war Glück gewesen, dass sein Plan funktioniert hatte, denn er hätte zu wenig Stärke besessen, um sich auf anderem Wege gegen Deathwing zu wehren. Momentan wäre er schon froh gewesen, wenn seine Magie zum Entzünden einer Kerze ausgereicht hätte. Dem wahnsinnigen Aspekt wäre er hilflos ausgeliefert gewesen.
Ausgelaugt lag der Drachenmagier auf dem felsigen Boden. Das erste Sonnenlicht erhellte den kleinen Ausschnitt des Horizonts, den er sehen konnte. In dieser öden Landschaft, in der die Schatten der Berge die Täler verdunkelten, wurde es selbst bei Tag kaum richtig hell. Trotzdem freute sich Krasus über das Licht, denn er war ein Drache des roten Clans und damit ein Geschöpf des Lebens. Und das Leben gedieh am besten im Licht.
Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Helligkeit. Krasus entspannte sich für einen Moment.
Doch eine tiefe Stimme über ihm zerstörte seine Ruhe triumphierend.
»Ah! Habe ich dich also doch gefunden!«
Hunger begann an Tyrandes Magen zu nagen. Das war ein schlechtes Zeichen. Mutter Mond hatte ihre Hilfe lange aufrecht erhalten, aber es gab so viel für sie in ganz Kalimdor zu tun, dass sie sich nicht ewig um eine einzelne Priesterin kümmern konnte. Priesterinnen waren stets bereit, sich als Erste zu opfern, sollte die Notwendigkeit dafür entstehen.
Tyrande fühlte sich nicht verraten. Sie dankte Elune für ihre Hilfe. Jetzt stand nur noch die genossene Ausbildung der Schwesternschaft zwischen den Peinigern und ihrem viel zu zerbrechlichen, sterblichen Körper.
Jeden Abend brachte ein Hochgeborener bei Sonnenuntergang einen Napf mit Nahrung in ihre Zelle. Der Napf und sein Inhalt – irgendein Eintopf, der vermutlich aus den Resten eines Abendessens bestand – wurden auf dem Zellenboden neben ihrer Sphäre abgesetzt. Tyrande musste nichts weiter tun, als ihren Wächtern sagen, dass sie hungrig sei, dann würde sich die Sphäre auf magische Weise senken. Der Elfenbeinlöffel, der stets im Brei steckte, war schmal genug, um durch die Lücke zu passen.
Tyrande hatte bisher jede Nahrung verweigert, schließlich wusste sie, dass Lady Vashj ihren Tod wollte. Doch langsam wirkte sogar die kalte, undefinierbare Masse, die in dem Napf lag, appetitlich. Ein einziger Bissen hätte der Priesterin gereicht, um ihre Stärke für einen weiteren Tag aufrecht zu erhalten, ein ganzer Napf hätte ihr eine Woche, vielleicht sogar länger genügt.
Aber sie konnte nicht ohne fremde Hilfe essen, und fragen wollte sie nicht. Das wäre ein Anzeichen von Schwäche gewesen, das die Dämonen sicherlich ausgenutzt hätten.
Jemand schloss die Tür auf. Tyrande wandte den Blick rasch vom Napf ab, um sich nichts von ihrem zunehmenden Hunger anmerken zu lassen.
Ein grimmig aussehender Wächter zog die Tür auf. Hindurch trat ein Hochgeborener, den die Gefangene noch nie gesehen hatte. Seine bunte Robe wirkte kostbar, und es war ihm offensichtlich klar, dass er gut aussah. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kaste war er athletisch gebaut. Noch auffälliger war jedoch seine blass-violette Haut und sein Haar – braun mit goldenen Strähnen. So etwas hatte Tyrande noch nie gesehen. Doch wie alle Hochgeborenen blickte auch er die Wache herablassend an.
»Lass uns allein.«
Der Soldat befolgte den Befehl ohne Zögern. Er schloss die Tür ab und verließ den Trakt.
»Heilige Priesterin«, sagte der Hochgeborene. Von seiner herablassenden Art war plötzlich kaum noch etwas zu spüren. »Du könntest diese Situation für dich erleichtern.«
»Mutter Mond gibt mir all die Erleichterung, die ich benötige. Ich wünsche und brauche nicht mehr.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich, doch Tyrande glaubte Bedauern darin zu erkennen. Sie ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Sie hatte geglaubt, die Hochgeborenen seien Sklaven des Dämonenlords und ihrer Königin, doch dieser Nachtelf widersprach diesem Verdacht.
»Priesterin …«, begann er.
»Du kannst mich Tyrande nennen«, unterbrach sie ihn, in der Hoffnung, er würde sich vielleicht öffnen. »Tyrande Whisperwind.«
»Mistress Tyrande, ich bin Dath’Remar Sunstrider«, entgegnete der Hochgeborene mit gewissem Stolz. »Wir dienen dem Thron seit zwanzig Generationen.«
»Eine noble Ahnenreihe. Das ist ein Grund, stolz zu sein.«
»Und das bin ich.« Doch als Dath’Remar diese Worte aussprach, zog ein Schatten über sein Gesicht. »So wie ich es sein sollte«, fügte er dann hinzu.
Tyrande spürte, dass Dath’Remar etwas von ihr wollte. »Die Hochgeborenen haben dem Reich stets gedient und über das Volk und den Brunnen gewacht. Ich bin sicher, dass deine Ahnen keinen Fehler in deinem Handeln sehen würden.«
Der Schatten strich erneut über sein Gesicht. Dath’Remar sah sich um. »Ich bin hier, um dich zu bitten, etwas zu essen.« Er hob den Napf vom Boden auf. »Ich würde dir gern mehr anbieten, aber das erlauben sie nicht.«
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