Danach musste man sich um die Dämonenseele kümmern.
Überraschenderweise trug nicht Illidan die Scheibe. Er hatte sie zwar aufgenommen, aber nur wenige Minuten später hatte der Captain seine Hand ausgestreckt und sie eingefordert. Zur großen Verwunderung des Orcs hatte Malfurions Bruder nicht protestiert, sondern die Scheibe ohne Zögern losgelassen.
Doch solche Überraschungen interessierten den grünhäutigen Krieger nicht. Ihm war nur klar, dass er die beiden töten und die Dämonenseele an sich nehmen musste. Um dahin zu kommen, musste sich der Orc jedoch erst einmal befreien und die Dämonen niederstrecken, die ihn und Malfurion bewachten.
Brox schnaufte enttäuscht. Den Helden in den Epen gelangen solche Dinge immer, aber er bezweifelte, dass sie ihm gelingen würden. Captain Varo’then wusste, wie man eine Fessel anlegte. Er hatte seine Gefangenen gut gesichert.
Wortlos zogen sie weiter. Das Nest des schwarzen Drachens lag bereits weit hinter ihnen. Allerdings fühlte sich Brox nicht so sicher, wie es Illidan und der Captain taten. Er war überzeugt, dass Deathwing sie finden würde. Es grenzte an ein Wunder, dass der schwarze Gigant noch nicht aufgetaucht war. War er von etwas abgelenkt worden?
Seine Augen weiteten sich, und er verfluchte seine Dummheit. Natürlich war er nicht von etwas abgelenkt worden, sondern von jemandem – von Krasus.
Brox verstand, welches Opfer der Magier möglicherweise brachte. Weiser Mann, ich wünsche dir alles Gute. Ich werde von dir singen … bis zu meinem nicht allzu fernen Tod.
»Umpf.«
Neben Brox stürzte Malfurion erneut. Dieses Mal gelang es dem Druiden jedoch, sich zu drehen. Er fiel nicht auf sein Gesicht, sondern auf die Seite. So entging er zwar einer blutigen Nase, aber der Sturz schüttelte trotzdem jeden Knochen in seinem Körper durch.
Der Orc hätte dem Nachtelf gern geholfen, doch das ging nicht. Durch zusammengebissene Zähne sagte er zu Illidan: »Gib ihm sein Augenlicht zurück. Dann wird er auch schneller gehen.«
»Sein Augenlicht? Wieso sollte ich?«
»Die Bestie hat Recht«, unterbrach Captain Varo’then. »Dein Bruder hält uns nur auf. Entweder schneide ich ihm hier und jetzt die Kehle durch oder du gibst ihm seine Augen zurück, damit er den Pfad sehen kann.«
Illidan lächelte ironisch. »Was für eine interessante Alternative. Na gut, bringt ihn her.«
Zwei Dämonen stießen Malfurion mit ihren Waffen vorwärts. Der Druide hielt sich so aufrecht wie möglich und trat seinem Zwilling ruhig entgegen.
»Von meinen Augen zu deinen«, murmelte Illidan. »Ich gebe dir, was ich nicht mehr benötige.«
Er schob den Schal nach oben.
Die Haare im Nacken des Orcs stellten sich auf, als er sah, was sich darunter befand. Brox schickte ein Stoßgebet zu den Geistern. Sogar der monströse Wächter neben ihm wirkte nervös.
Die Schatten verschwanden von Malfurions Augen. Er blinzelte, dann sah er Illidan an. Das Entsetzen, das er bei diesem Anblick verspürte, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Oh, Illidan …«, stieß Malfurion hervor. »Es tut mir so Leid.«
»Weshalb?« der Zauberer legte den Schal wieder über seine Augenhöhlen. »Ich habe jetzt etwas viel Besseres. Ein Augenlicht, von dem du nur träumen kannst. Ich habe nichts verloren, verstehst du mich? Nichts!« An den Offizier gewandt fuhr Illidan fort. »Jetzt kann er mithalten. Wahrscheinlich können wir das Tempo sogar erhöhen.«
Varo’then lächelte und gab den Befehl zum Aufbruch.
Malfurion stolperte auf den Orc zu. Brox half dem Nachtelf, seinen Rhythmus zu finden, dann murmelte er: »Es tut mir Leid wegen deines Bruders …«
»Illidan hat seinen Weg gewählt«, antwortete der Druide sanfter, als Brox es an seiner Stelle getan hätte.
»Er hintergeht uns!«
»Tut er das?« Malfurion starrte auf den Rücken seines Bruders. »Tut er das?«
Der Orc schüttelte den Kopfüber das Wunschdenken seines Begleiters und trottete schweigend weiter. Durch den alternden Tag zogen sie dahin. Ihre Wächter schienen sich keine Sorgen zu machen, aber Brox blickte immer wieder zurück zu den Bergen, erwartete jeden Moment, Deathwing zu sehen.
»Zauberer«, sagte der vernarbte Offizier nach mehr als einstündigem Schweigen. »Diese Scheibe kann all das, was du uns versprochen hast?«
»All das und noch mehr. Du weißt, was sie der Legion und den Nachtelfen angetan hat … und sogar den Drachen.«
»Ja.« Der Orc hörte die Bewunderung in Varo’thens Stimme. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Hand des Captains ständig über die Gürteltasche strich, in der sich die Scheibe befand. »Das stimmt also alles?«
»Frag Archimonde, wenn du möchtest.«
Varo’then zog seine Hand zurück. Der Verstand des Soldaten war noch klar genug, dass er den großen Dämon fürchtete.
»Ihre Macht sollte ausreichen, um das Portal nach Sargeras’ Wünschen zu gestalten«, fuhr Illidan fort. »Dann kann der Rest der Legion nach Kalimdor gebracht werden … und Sargeras wird sie anführen.«
Malfurion zog scharf die Luft ein, und Brox grunzte angewidert. Entsetzt sahen sie einander an, denn sie wussten, dass keine Streitmacht in der Lage sein würde, den Dämonenlord und die gesamte Legion zu besiegen.
»Müssen was tun …«, flüsterte Brox. Er spannte die Armmuskeln an, aber die Stricke gaben nicht nach.
»Ich tue schon etwas«, flüsterte Malfurion zurück. »Seit Illidan mir mein Augenlicht zurückgegeben hat. Vorher ging es nicht, weil ich ständig gestolpert bin und mich nicht konzentrieren konnte. Aber das ist jetzt kein Problem mehr.«
Brox achtete darauf, ob die Dämonen sie weiterhin ignorierten. »Was machst du?«, fragte er leise.
»Die Katzen. Ich rede mit ihnen, versuche sie zu überzeugen …«
Der Orc hob die Augenbrauen. Malfurion hatte schon früher gedanklich mit Tieren gesprochen. »Ich bin bereit, Druide. Wird es bald so weit sein?«
»Das ist schwerer als ich dachte. Die Anwesenheit der Legion hat sie … verwirrt, aber ich denke … ja, halte dich bereit. Sie werden bald handeln.«
Zuerst gab es keinen Hinweis darauf, doch plötzlich stoppte Captain Varo’thens Reittier. Der Offizier trat nach der Katze, aber sie bewegte sich nicht.
»Was ist nur los mit dieser verdammten …«
Varo’then brachte den Satz nicht zu Ende, denn im gleichen Moment stellte sich sein Nachtsäbler auf die Hinterläufe. Der Offizier konnte sich nicht mehr halten und rutschte zu Boden.
Illidan blickte über seine Schulter, doch da folgte sein eigenes Reittier bereits dem Beispiel des anderen. Der Zauberer war jedoch darauf vorbereitet. Er glitt zwar aus dem Sattel, stürzte aber nicht.
»Du Narr!«, schrie er, auch wenn unklar war, wen er damit meinte. »Du dummer …«
Brox reagierte in dem Moment, als die Katzen sich aufrichteten. Er lief zu Varo’thens Reittier und suchte nach seiner Axt. Der Nachtsäbler kam ihm entgegen, indem er seine Flanke in die richtige Richtung drehte … ein Kommando, das er sicherlich von Malfurion erhalten hatte.
Brox drehte sich und rieb seine Fesseln über die Klinge der Axt. Die Stricke fielen sofort. Nur ein wenig Blut floss über den Arm des Orcs.
Brox griff nach seiner Waffe. »Druide, zu mir! Wir reiten auf diesem …«
Doch der Nachtsäbler lief an ihm vorbei und prallte mit einer Teufelswache zusammen, die Malfurion hatte angreifen wollen. Die anderen Dämonen wichen zurück, wussten für einen Moment nicht, wie sie auf die verwirrende Situation reagieren sollten.
Die Katze begann in der Zwischenzeit an Malfurions Fesseln zu nagen. Der Nachtelf sah zu Brox hinüber und rief: »Achte nicht auf mich! Die Tasche, Brox, die Tasche!«
Der Orc drehte sich zu Varo’then um. Der Palastoffizier saß auf dem Boden und rieb sich den Schädel. Die Tasche, in der sich die Dämonenseele befand, baumelte an seinem Gürtel. Er schien nicht zu bemerken, dass der Orc neben ihm stand.
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