Mit erhobener Axt lief Brox dem Captain entgegen, doch der vernarbte Nachtelf erholte sich schneller, als er gehofft hatte. Der hagere Kämpfer sah die große, grüne Gestalt, die ihm entgegen stürmte und rollte sich zur Seite. Dann kam er auf die Beine.
»Komm schon her, du primitiver Mistkerl«, lockte er. »Ich schneid’ dich auseinander und verfüttere dich an die Katzen … wenn sie dich vertragen.«
Brox schlug zu. Der Hieb hätte Varo’then gespalten, wenn er getroffen hätte. Doch der Captain war schnell wie ein Blitz. Die Waffe des Orcs riss den Boden auf und hinterließ eine mehr als einen Meter lange Furche.
Varo’then sprang vor und stach nach seinem Gegner. Das Schwert hinterließ einen blutigen Schnitt in der linken Schulter des Orcs. Brox ignorierte den Schmerz und setzte zu einem neuen Angriff an.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Malfurion den reiterlosen Nachtsäbler auf die Teufelswache hetzte. Der erste Dämon wich zurück, da er nicht wusste, ob er Varo’thens Reittier angreifen sollte. Dieser Zweifel kostete ihn das Leben, denn der Panther warf ihn um und zerfetzte seine Kehle.
Brox wollte nach Illidan suchen, aber er musste sich auf seinen eigenen Gegner konzentrieren. Er hoffte, dass Malfurion seinen Bruder im Auge behielt. Wenn der Magier auch nur einen Zauber sprach, waren sie verloren.
Er schrie auf, als Varo’then ein zweites Mal seine Schulter traf.
Der Nachtelf grinste. »Erste Regel im Nahkampf: Lass dich nie ablenken.«
Die Antwort des Orcs bestand aus einem gewaltigen Schwung seiner Axt. Beinahe hätte er den Soldaten geköpft. Varo’then hörte auf zu grinsen und wich zurück.
»Zweite Regel«, knurrte Brox. »Nur Narren reden so viel auf dem Schlachtfeld.«
Sein Körper knisterte plötzlich. Seine Bewegungen wurden langsam und schwerfällig. Die Luft schien sich um ihn herum zu verhärten.
Zauberei.
Malfurion hatte sich nicht um Illidan gekümmert, so wie es der Krieger befürchtet hatte. Die Familienbande hatten ihn zögern lassen, und das rächte sich jetzt.
Das Grinsen kehrte auf Captain Varo’thens Gesicht zurück. Selbstsicher schritt er seinem langsamen Gegner entgegen. »Ich mag es eigentlich nicht, wenn ein Kampf zu leicht ist, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme.« Er richtete sein Schwert auf Brox’ Brust. »Mal sehen, ob dein Herz am gleichen Fleck ist wie das unsere.«
Doch im gleichen Moment hüllte ein dunkler Schatten beide Gegner ein. Brox wollte nach oben sehen, doch er war mittlerweile so langsam geworden, dass der Nachtelf ihn getötet hätte, ohne dass er den Kopf wieder hätte senken können. Wenn er schon sterben sollte, dann wollte der Orc seinem Mörder wenigstens in die Augen blicken, so wie es eines Kriegers geziemte.
Aber Königin Azsharas Diener sah den Orc nicht mehr an. Er blickte zum Himmel. Sein Mund zuckte ärgerlich.
»Weg von ihm, Schurke!«, brüllte eine dunkle Stimme.
Varo’then wich mit einem Satz zurück. Brox konnte nur hilflos zusehen. Keine Sekunde später traf ein Feuerstoß die Stelle, an der der Nachtelf eben noch gestanden hatte.
Die Flammen wurden so präzise gesteuert, dass Brox die Hitze kaum spürte. Das überraschte ihn, denn er war davon ausgegangen, dass ein Drache über ihnen schwebte, und zwar nicht irgendeiner, sondern …
Deathwing.
Doch wenn es sich tatsächlich um den schwarzen Giganten handelte, wieso verschonte er Brox dann? Abgesehen von Deathwing gab es nur einen Drachen, der wusste, welche Gruppe sich in den Bergen aufhielt: Korialstrasz. So viel war seit der Flucht aus dem Drachennest geschehen, dass er den großen roten Leviathan ganz vergessen hatte. Doch der hatte anscheinend ihn und Malfurion nicht vergessen.
»Haltet euch bereit!«, rief Korialstrasz. »Ich komme.«
Brox konnte nichts tun, nur auf das Können des Drachen vertrauen.
Einen Moment später legten sich Klauen um seinen Körper, und er wurde hoch in die Luft gerissen.
Wind stach in sein Gesicht. Brox spürte, wie die Gewichte von seinen Gliedmaßen abfielen. Entweder hatte der Rote etwas damit zu tun, oder Illidans Zauber hatte sich zufällig im gleichen Moment gelöst.
Malfurion hing in der anderen Klaue des Drachen. Der Druide wirkte erschöpft und verzweifelt. Er zeigte auf den Boden weit unter sich und rief dem Drachen und dem Orc etwas zu.
Brox verstand nach einem Moment seine Worte. »Die Scheibe!«, schrie Malfurion. »Sie haben noch immer die Scheibe!«
Der Orc wollte antworten, aber in der gleichen Sekunde ließ sich Korialstrasz wieder dem Kampf entgegen fallen. Der Drache näherte sich der Gruppe und taxierte seine Feinde nacheinander.
»Welcher ist es?«, brüllte der Riese. »Welcher?«
Die Frage war überflüssig, denn Captain Varo’then zog bereits die Dämonenseele aus der Tasche. Brox dachte an die Probleme, die Malfurion beim ersten Versuch gehabt hatte und hoffte, dass es dem Offizier ähnlich ergehen würde.
Das Glück schien auf ihre Seite zurückgekehrt zu sein, denn Varo’then hob böse grinsend die Dämonenseele – doch nichts geschah.
Korialstrasz stürzte sich brüllend auf den Captain. Dessen Gesicht verriet Verzweiflung.
Doch entgegen aller Logik leuchtete die Scheibe auf. Eine zweite Stimme meldete sich über dem Drachen. »Weg! Schnell, oder wir werden alle …«
Der Rote wurde nur von einem Ausläufer der Kräfte aus der Dämonenseele getroffen, aber das reichte bereits. Brox spürte die Schockwelle, in die Korialstrasz hinein flog. Der Drache zitterte, stöhnte … und hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.
Der Leviathan stürzte den Berggipfeln entgegen. Der Boden kam auf ihn zu. Brox begann die Namen seiner Ahnen aufzuzählen und bereitete sich auf seinen Aufprall vor.
Die graue Granitwand eines Berges füllte sein Blickfeld völlig aus.
»Was hast du getan?«, zischte Illidan.
»Ich habe die Scheibe benutzt«, antwortete Captain Varo’then staunend und beeindruckt. Dann riss er sich zusammen und betrachtete zuerst die Scheibe, dann seinen Begleiter. »Du hattest Recht. Sie erfüllt alle Versprechen, die du gemacht hast und bietet noch weit mehr. Mit ihr könnte man herrschen wie ein König …«
»Oder von Sargeras bei lebendigem Leibe gehäutet werden, nur weil man diesen Gedanken hatte.«
Die Versuchung verschwand von Varo’thens Gesicht. »Und das wäre auch richtig so, Zauberer. Ich hoffe, dir ist kein so dummer Gedanke gekommen.«
Malfurions Zwilling lächelte knapp. »Genauso wenig wie dir, Captain.«
»Die Königin wird über den Erfolg unserer Mission erfreut sein. Wir haben die Scheibe und konnten ihre Macht an einem ausgewachsenen roten Drachen testen. Und wir haben die zur Strecke gebracht, die uns bisher behindert haben.«
»Wenn du die Scheibe anders eingesetzt hättest«, sagte der Magier, »könnten wir die beiden jetzt noch befragen.«
Varo’then schnaubte. »Was sollten sie uns noch verraten? Das hier …« Er hielt Illidan die Scheibe entgegen. »… ist alles, was wir für den Sieg brauchen.« Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln. »Oder bedauerst du vielleicht das Schicksal deines Bruders? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?«
Illidan rückte seinen Schal zurecht und stieß die Luft aus. »Du hast gesehen, wie ich mit ihm umgegangen bin. Sah das für dich nach Bruderliebe aus?«
»Da hast du Recht«, stimmte der Captain nach einem Moment zu. Dann steckte er die Scheibe wieder in seine Tasche. Irritiert hob er die Augenbrauen.
»Stimmt etwas nicht, Captain?«
»Nein … da waren nur … es klang wie Stimmen … nein … es war nichts.« Er bemerkte nicht den interessierten Ausdruck auf dem Gesicht des Nachtelfs, der in dem Moment verschwand, als er ihn ansah. »Vergiss es. Komm jetzt. Die Katzen stehen wieder unter unserer Kontrolle. Die Scheibe muss so schnell wie möglich nach Zin-Azshari zurückgebracht werden.«
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