»Soll ich versuchen, ihn zu heilen, so wie damals?«
»Nein … damals konntest du deine Stärke aus einem gesunden Land ziehen. Hier würdest du zu viel von deiner eigenen Kraft verlieren. Er würde das nicht wollen. Außerdem gibt es einen anderen Weg.«
Krasus ging jedoch nicht näher darauf ein, sondern sagte statt dessen: »Korialstrasz und ich fanden einander – beziehungsweise, er fand mich, als ich mich nach einer sehr knappen Flucht vor dem Schwarzen ausruhte. Er hatte einen von Deathwings Wächtern getötet und zu Recht befürchtet, dass unser Plan, die Scheibe zu stehlen, schiefgegangen ist.«
Krasus war auf Korialstrasz’ Rücken gestiegen. Gemeinsam hatten sie einen Umweg gewählt, um Deathwing und seinen anderen Wächtern zu entgehen. Dann waren sie den magischen Spuren gefolgt, die die Dämonenseele hinterließ. Leider hatten sie ihre Gefährten erst gefunden, nachdem sie gefangen genommen worden waren und die Scheibe verloren hatten.
»Das war dein Bruder, nicht wahr, Malfurion?«
Der Druide ließ den Kopf hängen. »Ja. Er … ich weiß nicht, was ich sagen soll, Krasus.«
»Illidan wurde von ihnen korrumpiert«, sagte der Magier deutlich. »Das solltest du niemals vergessen.« Etwas in seinem Tonfall deutete daraufhin, dass er mehr über Malfurions Zwilling wusste. Doch er ließ sich nicht mehr entlocken.
»Was machen wir jetzt? Holen wir uns die Dämonenseele?«
»Ich sehe keine andere Möglichkeit. Aber zuerst musst du mir erzählen, was vor meiner Ankunft geschehen ist.«
Malfurion nickte und berichtete alles über ihre Gefangennahme, über die Entwendung der Scheibe und die anstrengende Reise. Jedes Mal, wenn er Illidans Namen erwähnen musste, erstickte er beinahe daran.
Krasus hörte mit steinerner Miene zu, als der Nachtelf darlegte, zu welchem Zweck der Palast die Dämonenseele einsetzen wollte. Erst als er seine Geschichte beendet hatte, antwortete der Magier.
»Ihre Pläne sind noch finsterer, als ich befürchtet hatte«, murmelte er halb an sich selbst gewandt. »Und doch liegt darin auch ein wenig Hoffnung …«
»Hoffnung?« Malfurion sah nichts Hoffnungsvolles in den Dingen, die er seinem Gegenüber erzählt hatte.
»Ja.« Krasus erhob sich und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. »Wenn wir sie nur dazu bringen könnten, zuzuhören .«
»Wen?«
»Die Aspekte.«
Der Nachtelf schüttelte energisch den Kopf. »Aber das können wir nicht. Sie haben sich ja sogar von dir zurückgezogen. Wenn Korialstrasz bei Bewusstsein wäre, könnten wir …«
»Ja«, unterbrach ihn der Drachenmagier. »Und Korialstrasz wird uns vielleicht eine Hilfe bei diesem Unterfangen sein … vorausgesetzt ich kenne die Herrin des Lebens wirklich so gut, wie ich glaube.«
Seine Worte ergaben keinen Sinn, aber daran hatte sich Malfurion bereits gewöhnt. Wenn Krasus etwas plante, würde ihn der Nachtelf mit all seiner Kraft dabei unterstützen.
Das Knirschen loser Steine kündigte Brox’ Rückkehr an. Leider brachte der Orc nichts mit.
»Kein Bach, keine Pfütze, keine Nahrung, noch nicht mal Insekten«, meldete der Krieger. »Ich habe versagt, Weiser.«
»Du hast getan, was du konntest, Brox. Auch weit entfernt von Deathwings Nest ist dies noch ein ödes Land.«
Malfurion spannte sich an, als er den Namen des schwarzen Drachen hörte. »Glaubst du, dass er uns weiter verfolgen wird?«
»Es würde mich überraschen, wenn er es nicht täte. Wir müssen etwas versuchen, bevor das geschieht.« Krasus blickte über seine Schulter auf den reglosen Korialstrasz. »Zum Glück hat dieser Captain Varo’then die Scheibe allzu hastig eingesetzt, sonst wäre von uns nur Asche geblieben. Korialstrasz kann sich erholen, das weiß ich, aber wir müssen den ersten Kontakt aufnehmen. Und wenn ich wir sage, meine ich dich , Nachtelf.«
»Mich?«
Krasus’ Augen verengten sich. Malfurion war noch nie aufgefallen, wie reptilienhaft sie waren. »Ja, du musst den Smaragdgrünen Traum betreten und Ysera, seine Herrscherin, finden.«
»Aber das haben wir doch schon versucht, als die Drachen von der Dämonenseele vertrieben wurden. Sie hat eine Antwort verweigert.«
»Dann wirst du ihr dieses Mal sagen, dass Alexstrasza erfahren muss, dass Korialstrasz im Sterben liegt.«
Entsetzt betrachtete Malfurion den gewaltigen Körper, aber Krasus schüttelte nur den Kopf. »Nein. Vertraue mir. Ich hätte größere Angst davor als alle anderen. Bring diese Nachricht Ysera. Sie wird die Herrin des Lebens in jedem Fall davon unterrichten.«
»Du verlangst, dass ich die Herrscherin der Traumwelt belüge ?«
»Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Der Druide dachte darüber nach und begriff, dass sein Begleiter Recht hatte. Eine solche Schreckensmeldung würde die Aufmerksamkeit der Aspekte erregen. Sie würden Malfurion glauben, denn niemand wäre ein solcher Narr, ihren Zorn wegen eines Lügenmärchens auf sich zu ziehen.
Es blieb nur die Frage, was die Drachen mit ihm tun würden, wenn sie herausfanden, dass er eben doch so närrisch war.
Doch darüber durfte Malfurion nicht nachdenken. Er vertraute Krasus. »Ich werde es tun.«
»Ich werde versuchen, auf dich aufzupassen. Brox, du wirst uns beide beschützen, sollte es nötig sein.«
Der Orc verneigte sich. »Ich fühle mich geehrt.«
Malfurion setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf den Boden und vertrieb alle störenden Gedanken aus seinem Geist. Dann verdrängte er die Schmerzen seines Körpers. Als sie nachließen, begann er sich auf das mystische Reich zu konzentrieren.
Trotz seiner Erschöpfung fiel es dem Nachtelf so leicht wie nie zuvor, den Smaragdgrünen Traum zu betreten. Ein wenig verstörend war nur die Wärme, die er in den beiden kleinen Beulen auf seiner Stirn spürte. Malfurion hätte sie am liebsten berührt, weil er wissen wollte, ob sie größer geworden waren, aber er hielt sich zurück. Die Suche nach Ysera war wichtiger.
Im ersten Moment wollte er die Landschaft nach ihr durchsuchen, doch dann dachte er daran, wer sie war. Theoretisch musste er sie einfach nur rufen. Ob sie darauf reagierte, war eine ganz andere Frage.
Herrscherin des Smaragdtraums , rief Malfurion in seinem Geist. Herrin der Träume … Ysera …
Der Druide spürte keine andere Präsenz, wusste jedoch, dass er es weiter versuchen musste. Sie war irgendwo in diesem Traum … oder überall. Ysera würde ihn hören.
Ysera, ich habe schlimme Neuigkeiten für die Herrin des Lebens … ihr Gefährte Korialstrasz liegt im Sterben … Malfurion stellte sich die Szene in seinem Geist vor, wollte vermitteln, wo genau sich der Drache befand. Korialstrasz wird sterben …
Er wartete. Die Herrin der Träume musste einfach darauf reagieren. Sie würde eine solche Tragödie doch wohl nicht ignorieren.
Die Zeit verging auf seltsame Weise im Smaragdgrünen Traum, doch auch hier verging sie. Malfurion wartete lange, aber er spürte die grüne Drachenherrscherin nicht.
Schließlich begann er zu ahnen, dass es hoffnungslos war. Frustriert über diesen Fehlschlag kehrte er in seinen Körper zurück.
Krasus sah ihn nervös an. »Hat sie reagiert?«
»Nein … nichts.«
Der Magier blickte mit gerunzelter Stirn zur Seite. »Aber sie hätte reagieren müssen«, murmelte er. »Sie weiß, was das für Alexstrasza bedeuten würde.«
»Ich habe getan, was du verlangtest«, erklärte der Druide. Er wollte nicht, dass Krasus glaubte, es sei sein Fehler. »Ich habe alles so gesagt, wie du es vorgeschlagen hast.«
Der Magier legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das weiß ich, Malfurion. Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Es ist …«
»Drache!«
Brox’ Warnschrei kam nur Sekundenbruchteile, bevor der riesige Körper durch die Wolkendecke brach. Malfurion konzentrierte sich auf diese Wolken, hoffte, dass er auf ihre Hilfe im Kampf gegen den Angreifer bauen konnte.
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