Dann waren sie verschwunden. Minuten später hatte Nelltis das Weinlager abgeschlossen und rieb sich gutgelaunt die Hände, während er die vielen Steinstufen zu seinen Räumen hinaufstapfte.Kitiara lag auf dem Rücken auf dem riesigen Bett in dem feudalen Zimmer, daß Nelltis ihr in der Spitze des Nordturms überlassen hatte. Müßig betrachtete sie das feine Gittermuster an der Decke.
In den bald drei Monaten, die Kitiara bei Onkel Nelltis verbracht hatte, war sie ganz untypisch passiv gewesen, auch wenn sie ein Duell ausgetragen und drei oder vier Liebhaber gehabt hatte. Sie hatte sich auch Zeit genommen, ihre Fähigkeiten beim Bogenschießen und mit der Peitsche zu vervollkommnen. Aber Kit hatte sich nicht aus Nelltis’ Herrschaftsbereich herausbewegt und keinen Söldnerauftrag angenommen.
Sie war unzufrieden. In Augenblicken wie diesem fragte sie sich unwillkürlich, was Tanis wohl tat. Dieser verdammte, selbstgerechte Halbelf! Und doch gelang es ihm oft, sich in ihre Gedanken zu schleichen.
Kit wunderte sich über Onkel Nelltis, und diese Gedanken waren etwas näherliegend. Obwohl Nelltis von Gregor seit Jahren weder gehört noch ihn gesehen hatte, profitierte er weiterhin von jener Verbindung, wie Kit glaubte. Die beiden Männer hatten sich nicht besonders gut gekannt, aber Nelltis deutete gern an, daß sie in wenigstens eine ungesetzliche Eskapade gemeinsam verwickelt gewesen waren. Einst hatten die beiden Familien Tür an Tür gelebt. Vor Jahrzehnten hatte der ungestüme, freiheitsdurstige Onkel Nelltis alle Verbindungen zur Familie abgebrochen und am Rand von Lemisch sein eigenes Reich gegründet.
Nelltis hatte etwas an sich, das fesselnd, aber nicht greifbar war. Er war prächtig eingerichtet und hatte viele Diener, doch er arbeitete wenig, und seine Felder erbrachten nur eine bescheidene Ernte an Korn und Saatgut. Kit konnte sich nicht erklären, wie er sein luxuriöses Leben finanzierte.
Sie wußte, daß Nelltis in letzter Zeit viel gereist war. Er hatte zahlreiche kleine Ausflüge in die Dörfer und Städte der Gegend gemacht. Wenn er zurückkam, brachte er, wie Kit auffiel, immer einen oder zwei stämmige Bauern mit, wodurch das schon große Gesinde weiter anwuchs. Inzwischen bestand es aus Dutzenden von Bediensteten – Kitiara hatte die Übersicht verloren –, und eigentlich gab es für sie gar nicht so viel Arbeit zu erledigen.
Manchmal verschwand Nelltis in seinem eigenen Schloß praktisch von der Bildfläche. Das Schloß war ein verwinkelter, alter Bau, an den viele Nebengebäude, einschließlich Stall und Scheune, angebaut waren. Dennoch gab es Zeiten, zu denen Kitiara das Gebäude eine Stunde lang vergeblich nach Nelltis absuchte, um dann plötzlich um eine Ecke zu biegen und vor ihm zu stehen, als ob er spöttisch grinsend dort gewartet hätte. Kit wußte, daß sie nicht weiter nachforschen durfte. Sie nutzte die Zeit, wartete und wartete. Nelltis war immer gut zu ihr gewesen. Er hatte sie stets großzügig aufgenommen, wenn sie ohne Vorwarnung zu einem Besuch hereingeschneit war. Für Kit war seine Burg ein bequemer Zufluchtsort, wann immer sie einen brauchte.
Ein Klopfen an der Tür riß Kitiara aus ihren Gedanken. Sie fuhr hoch und machte widerwillig auf. Halb erwartete sie, von einem ihrer rivalisierenden Verehrer belästigt zu werden, dem Sieger der Rauferei, mit dreckigem Gesicht und heroisch zerrissenen Kleidern.
Statt dessen stand ein Kender da, der von einem nervösen Diener von Nelltis, nämlich Odilon mit den buschigen Augenbrauen, überwacht wurde. Der Haarknoten des Kenders saß an der Seite des Kopfes, und sein Zopf baumelte bis zu den Knien herunter. Er hatte blonde Haare und war kleiner und älter als Tolpan Barfuß. Sie kannte ihn nicht.
Strahlend hielt ihr der Kender ein kleines, zusammengerolltes Pergament hin, das mit Wachs versiegelt war. Das Siegel war unversehrt, was Kitiara überraschte, da Kender doch chronisch neugierig waren. Er mußte also einer jener Kenderboten sein, deren Zuverlässigkeit ebenso unvorhersehbar war wie ihre Neugier berühmt.
Kit griff nach dem Brief, doch der Kender setzte rasch eine ernste Miene auf und zog die Hand zurück, so daß sie ins Leere griff.
»Kitiara Uth Matar?« fragte der Kender wichtigtuerisch. »Denn wenn du Kitiara Uth Matar aus Solace bist, aber neuerdings aus Nirgendwo – augenblicklich in Lemisch –, dann habe ich eine Botschaft von äußerster Dringlichkeit.«
Kitiara nickte ungeduldig. Sie streckte die Hand aus.
Der Kender strahlte wieder über das ganze Gesicht und hielt ihr die Rolle hin. Diesmal war Kit schneller und hatte die Nachricht fest an sich gerissen, bevor der Kender sie wieder wegziehen konnte. Unerschrocken wollte der lächelnde Kender sich in den Raum schieben, doch Kitiara trat vor, stellte sich in die Tür und versperrte ihm den Weg.
»Aufgabe erfüllt«, zirpte der Kender freundlich. »Mein Name ist Espentau, und ich bin ein paar hundert Meilen gereist, nur um diese eine Nachricht zu überbringen, obwohl ich natürlich noch eine Menge anderer Dinge in diesem Teil der Welt zu erledigen habe. Ich habe eine Schwester, die gerademal eine Tagesreise weiter östlich wohnt. Jedenfalls sehe ich sie als Schwester an, ich liebe sie wie eine Schwester, aber eigentlich ist sie meine Kusine. Und dann gibt es hier diese berühmte Spukhöhle, die ich schon immer mal besuchen wollte, die steht auf einer meiner Karten. Ist ein höchst geheimer Ort, von dem ich noch niemanden etwas erzählt habe, aber ich glaube, dir könnte ich etwas verraten, besonders wenn du mich diesen Brief lesen läßt, auf den ich ein wenig neugierig bin, nachdem ich ihn so weit getragen habe…«
Espentau trippelte hin und her, um vielleicht doch noch an Kitiara vorbeihuschen zu können. Odilon, der Diener, trat vor, packte den Kender am Kragen und zerrte ihn mit sich fort. Als Espentau – fest in Odilons Griff – die Wendeltreppe hinunter verschwand, hielt er einen Edelstein an einer Kette hoch und rief:
»Oh, keine Sorge. Du brauchst gar nichts zu bezahlen! Der junge Magier – jedenfalls hat er gesagt, er wäre ein Magier, aber er war ganz schön jung dafür – hat mir genug Geld gegeben und obendrein noch diese ungewöhnliche, hinreißende Kette. Ich hoffe, sie ist magisch, aber bei Magiern kann man nie wissen. Ich habe mal einen Zauberer kennengelernt, der hatte diese äußerst seltsame Art von Humor, und… Huch, ich muß gehen! Ich bleib’ ein Weilchen in der Küche und esse etwas, nur falls du eine Botschaft hast, die zurück nach Solace soll. Obwohl ich sowieso nicht gleich wieder zurückreise – ehrlich gesagt, frühestens nächstes Jahr, aber…«
Kitiara machte die Tür zu. Sie mußte sich das Lachen verkneifen wegen der Kette, bei der es sich um ein einfaches, billiges Schmuckstück ihrer Mutter handelte, das Raistlin als Andenken unter seinen Sachen verwahrt hatte. Raistlin hatte eine eigentümliche Vorliebe für Kender, und er war einer der wenigen Leute, die sie kannte, die einem Kender eine Nachricht, und zudem noch eine wichtige, anvertrauen würden. In diesem Fall zumindest hatte sich sein Vertrauen ausgezahlt.
Kit setzte sich auf den Rand ihres Bettes, machte den Brief auf und begann zu lesen. Ihr mildes Lächeln wich schnell einem verärgerten Ausdruck. Kit las die kurze Mitteilung noch einmal. Dann saß sie lange Zeit nachdenklich da, kam jedoch zu keinem klaren Entschluß, was sie tun sollte.Silbriges Mondlicht strömte in den Raum, als Kit endlich aufstand. Sie hatte beschlossen, Onkel Nelltis aufzusuchen und um Rat zu bitten.
Diesmal fand sie ihn auf Anhieb in seinen Räumen, wo er an seinem Schreibtisch saß, auf dem sich Briefe und Berichte stapelten. Eine Öllampe warf einen goldenen Lichtschein. Obwohl es schon spät war, schien Nelltis hart an einer jener Sachen zu arbeiten, mit denen er sich die Zeit vertrieb. Doch er sah auf, als hätte er sie erwartet, und legte die Feder beiseite. Der kinderlose Nelltis betrachtete Kit gern wie seine Tochter und versäumte es nie, sie warm zu begrüßen.
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