Mit der wie ein Speer angelegten Drachenlanze starrte Huma auf die wilde Göttin herab.
Sie lag auf dem Rücken, die Flügel waren verrenkt unter ihr eingeklemmt. Die vier verbliebenen Köpfe schnappten wild nach der abgerissenen Drachenlanze, die immer noch aus ihrem Körper ragte. Jedes Mal, wenn die Köpfe näher kamen, sprühte die Lanze Funken, und immer wieder fuhren sie vor Schmerz zurück.
»Hör mir zu«, sagte Huma.
Zuerst hörte er nur ihr Wüten und die schrecklichen Wut- und Schmerzensschreie.
»Hör mir zu«, wiederholte er.
Sterblicher… was willst du?
Der riesige Drache versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht.
»Du bist besiegt, Takhisis, Drachenkönigin.«
Das bin ich nicht! Das kann nicht sein!
»Deine Armeen werden gerade aufgerieben. Die Abtrünnigen sind tot oder in alle Winde zerstreut. Die Versammlung der Zauberer wird nach ihnen suchen. Sie werden in Zukunft viel genauer beobachtet werden. Es wird nie wieder einen Galan Drakos geben.«
Weitere Zeit verstrich. Die Drachenkönigin kämpfte sichtlich um ihre Beherrschung.
Was willst du, Sterblicher?
»Das Gleichgewicht muß bestehen bleiben. Ohne das Gute kann das Böse nicht wachsen. Ohne das Böse tritt das Gute auf der Stelle. Ich weiß, daß ich dich nicht töten darf.«
Dann laß mich frei!
Huma taumelte vor dieser Inbrunst kurz zurück. Die Drachenlanze rutschte ihm fast aus der Hand.
»Erst mußt du dich ergeben.«
Der Wind hatte sich gelegt. Der Himmel war seltsam klar. Sonnenlicht wärmte Humas Körper.
Das Portal war kaum noch zu erkennen.
Die Gestalt der Drachenkönigin regte sich nicht mehr. Sie schien fast – tot. Huma zog die Lanze vom Rand zurück und beugte sich vor.
Ein smaragdgrüner Drachenkopf schoß herauf. Huma fuhr zu spät zurück.
Ein dicker, zischender Strom aus giftigem, grünem Gas schoß heraus und umnebelte ihn, bevor er auch nur einen Gedanken fassen konnte. Er stürzte nach vorn, und diesmal ließ er die Lanze wirklich los. Sie rollte den Abhang hinunter. Auch der hilflose Ritter fiel der Drachenkönigin entgegen.
Bei jedem Aufschlag auf die von Steinen übersäte Kraterwand schrie er auf.
Wenn er vorher Schmerzen gehabt hatte, lernte er nun, was wahre Qualen waren. Er schrie und schrie, aber er starb nicht.
Du lebst immer noch! Wie kann man dich überhaupt umbringen? Du bist doch nur sterblich!
Trotz seiner Schmerzen mußte er jetzt lachen.
»Ich gehöre Paladin. Ich gehöre Gwyneth. Keiner von beiden wird zulassen, daß du mich je bekommst.«
Huma zog sich hoch. Er hustete, und seine Hände zitterten. Er hatte viel von dem Gas eingeatmet. Der Fall hatte seinen Körper geschwächt, und er konnte nur noch sitzen bleiben, so entsetzlich drehte sich ihm der Kopf. Er wußte, daß ihm trotz seiner Worte nicht mehr viel Zeit blieb.
»Sie kommen, Takhisis.«
Wer?
»Die anderen Drachenlanzen. Über hundert. Hundertmal Schmerz und Qual. Ich habe dir eine Chance gegeben. Sie werden sich darauf nicht einlassen. Das weißt du.«
Sie können mich nicht töten!
»Sie können dir endlose Qualen bereiten.«
Das dürfen sie nicht! Das Gleichgewicht! Du hast es gesagt.
»Was kümmert sie das Gleichgewicht? Dann doch lieber Frieden, werden sie sagen.«
Langes Schweigen. Huma wollte die Augen schließen, überwand sich jedoch, sie ein letztes Mal zu öffnen.
»Du wirst dich nicht befreien können, bevor sie kommen. Auch wenn ich sterbe, werden sie dich erwischen. Eine Göttin, die der Gnade von Sterblichen ausgeliefert ist.«
Was willst du?
Sie hatte offenbar Mühe weiterzumachen. Nur ein Kopf starrte noch in Humas Richtung. Die anderen drei wackelten krampfhaft.
»Zieh dich aus Krynn zurück.«
Ich-
»Zieh dich sofort zurück!«
Na gut.
»Ruf auch deine Drachen zurück. Sie dürfen nie wieder nach Krynn kommen. Nimm sie mit.«
Lange Pause.
»Schwöre es«, setzte er hinzu.
Sie zögerte.
Einverstanden.
»Ich will hören, wie du bei dem schwörst, was für dich das Heiligste ist.«
Beide bemerkten den einzelnen Drachen über ihnen und hörten den Ruf seines Reiters, eine Stimme, die Huma kannte.
Kaz. Seine Stimme klang unsicher, und der Drache war sichtlich auf der Hut, aber sie kreisten angriffsbereit über ihnen.
»Du hast nicht viel Zeit, Königin.«
Ich schwöre, daß ich mich aus – aus Krynn –, sie wand sich vor Schmerzen, und einen Augenblick lang glaubte Huma, er würde unter ihr begraben werden, – aus Krynn mit allen meinen Kindern zurückziehen werde, solange die Welt besteht. Das schwöre ich bei –
Sie sprach es aus: Beim Allerhöchsten. Beim Gott der Götter.
Blitz landete wachsam ganz in der Nähe. Kaz mißachtete die bedrohliche Gegenwart der verruchten Drachenkönigin und rannte an Humas Seite.
»Du hast gewonnen! Du hast sie besiegt!« Kaz hielt abrupt inne. Seine Miene wurde ernst. »So wahr ich dein Zeuge bin, Huma: Ich – ich werde mich daran erinnern, wie ich mich an meine Vorfahren erinnere.«
Huma brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Kaz, du mußt ihr die Drachenlanze aus dem Körper ziehen.«
»Was?« Kaz richtete sich auf und starrte den Ritter an, als ob dieser nicht ganz bei Trost wäre. »Sie befreien? Sie wird aus Rache alles vernichten! Wir werden sterben – wenn wir Glück haben!«
Huma schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat – es geschworen. Ich kann dir – versprechen, daß sie – «, er wollte die Augen schließen, »– daß sie verschwinden wird.«
»Das kann ich nicht!«
»Kaz«, mahnte Huma mit einer Grimasse. »Ich habe es ihr versprochen. Es – es ist eine Frage meiner Ehre. Du verstehst doch, was Ehre ist. In der alten – alten Sprache sagen wir: ›Est Sularis Oth Mithas‹. ›Die Ehre ist mein Leben‹.«
Der Minotaurus sah von dem Ritter zu der Göttin, die jetzt still war, aber vor Schmerzen ächzte.
»Schnell. Die Lanze. Meine Ehre. Die anderen – werden es nicht zulassen.«
Widerstrebend setzte sich der Minotaurus in Bewegung.
»Die Ehre«, sagte er halb zu sich selbst, während seine Augen die Aufgabe einschätzten, »ist mein Leben.«
Die Köpfe der Drachenkönigin schwangen in seine Richtung, doch nur einer, der verräterische Grüne, fixierte Kaz. Die anderen wippten nur noch blind hin und her.
Die Lanze steckte tief im Halsansatz des blauen Kopfes. Voller Abscheu kletterte Kaz auf Takhisis, die Dunkle Königin.
Der grüne Drachenkopf beäugte ihn genau.
In einem plötzlichen Anflug verrückten Heldentums schnaubte der riesige Krieger verächtlich. Er zuckte zusammen, als es so aussah, als würde der Kopf zuschlagen, aber dann drehte sich der Kopf, um grimmig die Quelle der Qualen der Königin zu betrachten.
»Götter«, stammelte Kaz. Dann hielt er den Mund, weil er an seinen Schwur dachte. Er hatte die Drachenlanze erreicht. Nachdem er sie fest in der Hand hatte, zog der Minotaurus.
Die Lanze glitt widerstandslos heraus. Kaz verlor das Gleichgewicht und kugelte, ohne die Lanze loszulassen, von dem Ungeheuer herunter.
Ein grauenhaftes, ohrenbetäubendes Lachen gellte durch die Luft.
Kaz blieb irgendwo liegen, drehte sich um und starrte – nach oben.
Da war sie, in all ihrer höllischen Pracht. Mit ausgebreiteten Flügeln, die den Himmel verdeckten. Alle fünf Köpfe sahen himmelwärts und lachten. Der Schmerz, die Wunden – es war, als hätte es das nie gegeben.
Fünf schreckliche Drachenköpfe blickten auf den hilflosen, zerschundenen Ritter und dann auf den Minotaurus herab, der sie befreit hatte. Auf jeder Drachenmiene stand ein bösartiges Lächeln.
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