Humas Kopf wurde von einer heftigen Kraft zurückgeworfen. Einen kurzen Moment lang war jeder Gedanke vergessen. Dann stand Drakos wieder oben auf der Plattform. Er klopfte zweimal mit dem Elfenbeinstab auf den Boden und begann, in einer Zaubersprache zu murmeln. Die Smaragdkugel strahlte wie eine winzige Sonne. Das Schloß erbebte wieder.
»Das Band zum Abgrund ist fest geknüpft!« rief der Abtrünnige triumphierend aus. In der Kugel glitzerte etwas. Drakos ließ seinen Stab verschwinden und legte beide Hände auf den leuchtenden Gegenstand. Er starrte darauf, ohne auf das fast blendend helle Licht zu achten. Wieder begann er zu murmeln.
Huma rief in Gedanken den Stab herbei.
Er konnte nicht beurteilen, ob es seine eigene Idee oder die des rachsüchtigen Geistes von Magus war. Er wußte nur, daß er sich darauf konzentrieren mußte, den Stab des toten Zauberers zu rufen, und daß er es jetzt tun mußte.
So einfach – jetzt, wo er es wußte. In der einen Minute waren seine Hände leer, in der nächsten hielt er in der Linken den Stab in seiner kompakten Form. Seine Augen wurden plötzlich größer, als er ein Zittern in der Handfläche spürte, die den magischen Gegenstand umklammerte. Als ob er sich mit Eigenleben bewegte, drehte er sich in seiner Hand und klopfte gegen die steinerne Tatze, die sein Handgelenk festhielt.
Der Gargyl ließ los.
Galan Drakos wendete sein Gesicht immer noch der Kugel zu. Seine Hände waren ausgestreckt, als würde er einen persönlichen Gott beschwören.
Huma befreite seine rechte Hand.
Drakos schrie etwas Unverständliches. Der Glanz der Kugel hatte sich ausgebreitet und den Zauberer erfaßt, der zu wachsen schien. Huma starrte die Kugel an. In ihr schien ungebändigte Energie zu wirbeln. Wieder erbebte die Zitadelle.
»Nein!« Drakos redete scheinbar mit jemandem. »Die Flut ist zu stark! Ich brauche mehr Macht, sonst überwältigt sie mich!«
Huma begriff diese Worte nicht, wußte aber, daß er die Verbindung zwischen den beiden Ebenen unterbrechen mußte. Wenn Takhisis diese Macht nutzen konnte –
Beim nächsten Mal war das Beben so stark, daß mehrere Gargyle nach vorne kippten und am Boden zerschmetterten. Galan Drakos’ Miene veränderte sich nicht, als er merkte, daß Huma frei war. Er murmelte einfach etwas vor sich hin und widmete sich dann sofort wieder seinem Zauber.
Sobald Huma frei war, begann sich der Stab zu dehnen und zu strecken, als wenn er lebendig wäre. Er wuchs, wie er es schon einmal getan hatte.
Plötzlich traten die Gargyle aus ihren Nischen und bildeten ein Sammelsurium von Monstern, deren einziger Gedanke Humas Tod war.
Da dieser mit dem Bauernspieß umzugehen wußte, sah Huma in dem Zauberstab eine geeignete Waffe. Bei jeder Berührung flogen die Splitter, und die Gargyle hätten genauso gut aus Butter sein können, so leicht glitt er durch sie durch. Doch ein verletztes Bein oder eine Enthauptung reichten nicht aus, um auch nur einen von ihnen aufzuhalten. Aus allen Richtungen drangen sie auf ihn ein, und Huma wußte, daß dem Abtrünnigen die untoten Diener in unermeßlicher Zahl zur Verfügung standen. Dennoch focht er entschlossen weiter, im festen Glauben an Paladin.
Huma wußte, daß er nur einen einzigen treffsicheren Hieb auf Drakos landen mußte, doch die Gargyle umringten ihn von allen Seiten, und auf diese kurze Distanz war der Stab praktisch nutzlos. Wenn nichts passierte, würde er in Kürze von einer der Steinkreaturen zermalmt werden.
»Huuuuuummmaaa!«
Die Stimme kam von oben und übertönte selbst den Lärm in der Zitadelle. Was machte Drakos nur? Mußte er die Berge selbst niederringen?
»Huuuuummmaaa!«
Jetzt konnte Huma sie sehen.
»Gwyneth!«
Sie entdeckte ihn und schraubte sich hinunter, als ein Gargyl Huma gerade den Stab aus der Hand schlug. Der silberne Drache brüllte und schlug nach den nächsten der Steinkreaturen. Sie zersprangen zu Sand. Gwyneth flog hoch, wendete und kam zurück, um noch einmal anzugreifen. Mehrere Gargyle ließen von Huma ab, um diesen neuen Feind anzugreifen. Gwyneth wurde vom Gewicht der Wesen heruntergezogen, die sich zu viert an ihrem Bauch festgekrallt hatten. Mit lautem Gebrüll, mehr vor Ärger als vor Schmerz, wirbelte sie in dem großen Raum so gut wie möglich herum, um die Gargyle abzuschütteln. Sie klammerten sich jedoch fest, so daß sie hinausfliegen mußte, um sie loszuwerden.
Damit hatte der silberne Drache Huma schon Zeit genug verschafft. Er schnappte sich den Stab des Magus und wirbelte wieder herum, wobei er den nächsten Angreifer mit dem ersten Schlag außer Gefecht setzte. Die anderen wagten sich wieder näher heran.
Eine Anzahl Männer kamen angerannt. Die Schwarze Garde. Die schwarzgekleideten Gestalten blieben im Torbogen stehen und starrten mit offenem Mund auf die Szene vor ihnen.
Huma sah den irren Ausdruck von Drakos, als er sich rasch den Soldaten zuwandte. Ein Licht wie das der grünen Smaragdkugel glitzerte in seinen Augen. Er sagte ein einziges Wort, und selbst diese kleine Anstrengung ließ ihn zusammenzucken.
Ein dünner, tödlicher Blitz aus grüner Energie, der aus der Kugel stammte, zuckte mit furchtbarer Geschwindigkeit auf die nichtsahnenden Krieger zu. Er teilte sich in zwei, dann in vier einzelne Pfeile, noch ehe er halb bei ihnen war. Zu spät erkannten die Soldaten die Gefahr und versuchten davonzurennen. Vier hatten keine Zeit mehr dazu. Sie wurden von den Energieblitzen wie Fische auf eine Harpune aufgespießt und in den Raum gezogen. Huma erschauerte. Der Zauberspruch schien Galan Drakos genauso zu beherrschen, wie dieser den Spruch. Der Ritter bezweifelte, daß der Abtrünnige überhaupt wußte, was er getan hatte. Alles, was für Drakos jetzt zählte, war Macht.
Die anderen Wachen flohen. Von seinem Standort aus sah Huma hilflos zu, wie ein weiterer Blitz heranzuckte, diesmal in seine Richtung.
Er traf ihn auf die Brust, und der Aufprall ließ den Blitzschlag auf einen Haufen Gargyle überspringen. Zuerst fühlte sich Huma, als würde ihm die Lebenskraft davonrinnen. Doch dann warf etwas den gefräßigen Blitz zurück und sandte ihn zuckend wieder in die Kugel. Huma griff sich an die Brust, wo er das Medaillon entdeckte, das Avontal ihm gegeben hatte. Das Medaillon eines Paladin-Klerikers.
»Huma! Das Schloß bricht auseinander!«
Ein Gargyl fiel auf die Knie. Ein anderer brach einfach zusammen. Als Huma herumfuhr, sah er Galan Drakos vor sich. Aus dem schon vorher kaum noch menschenähnlichen Gesicht des Abtrünnigen sprach der pure Wahnsinn.
»Ich – ich werde sie – sie meinem Willen unterwerfen! Ich bin Drakos, der größte Magier aller Zeiten!«
Der Zauberer rief seinen Stock herbei und klopfte damit dreimal auf das Podest. »Shurak! Gestay Shurak Kaok!«
Die Gargyle hatten alle Lebendigkeit eingebüßt. Als sie um Huma herum zusammenbrachen, tauchte der silberne Drache wieder auf und flog auf ihn zu. Drakos griff nicht an, sah ihn nicht einmal. Statt dessen lachte er den Himmel an. Seine Gestalt sprühte vor Energie.
»Ich habe es geschafft, Herrin! Die Macht ist mein!«
Der Abtrünnige war so in seinem augenscheinlichen Triumph gefangen, daß er das Bild nicht sah, das sich in der Smaragdkugel formte. Unter Humas Augen teilte sich das Gesicht in der Kugel in zwei. Dann drei. Die Gesichter verzerrten sich, wurden echsenartig. Drachen. Mindestens fünf Köpfe. Alle spottend.
»Huma, wir müssen fort!«
»Ich kann nicht!« Huma starrte die Drachenlanzen an, die Gwyneth trug. Sie waren für seinen Zweck zu unpraktisch. Selbst die Lanze für den Fußsoldaten war unhandlich. Dann blieben seine Augen an Magus’ Stab hängen. Ihm kam eine Idee.
Er ergriff den Stab. Worte, die er nicht verstand, strömten von seinen Lippen, und auf einmal leuchtete der Stab. Er warf ihn mit aller Kraft.
Читать дальше