Langsame, schwere Schritte näherten sich von drinnen. Lavim spähte sehr vorsichtig um die Ecke des Eingangs. Dann quetschte er sich mit angehaltenem Atem wieder in die Dunkelheit.
Ein Zwerg mit breiten Schultern und einem dichten, langen kastanienbraunen Bart mit silbernen Strähnen kam langsam durch den engen Gang. Seine Kleider waren blutig und zerrissen.
Das ist Hornfell, Lehnsherr der Hylaren. Der da? Wirklich? So sieht ein Lehnsherr aus? Er sollte sich mal richtig ausschlafen und –
Der Zwerg blieb an einer halb geöffneten Tür stehen und lehnte sich an die Steinmauer. Dann richtete er sich rasch wieder auf, als hätte er sich selbst für sein Ausruhen gescholten. Er überprüfte sein Schwert und lief wieder den Gang hinunter, aus dem er gekommen war. Kurz darauf stieß er mit dem Fuß die Tür auf.
»Es ist soweit, Stanach. Sie sind da, und es sind viele.«
»Stanach«, flüsterte Lavim.
Es war Stanach, der auf den Gang trat. Ihm folgte ein breitschultriger, untersetzter junger Mann, der aussah, als wenn er nicht nur Schlaf, sondern auch ein paar ausgiebige Mahlzeiten vertragen könnte.
Lavim warf alle Vorsicht wie überflüssiges Gepäck ab, als er freudestrahlend zum Torhaus hüpfte. »He! Stanach!«
Der junge Mann fuhr mit dem Schwert in der Hand herum und schlug nach dem Kender.
»Nein!« rief Stanach. »Hauk, nicht!« Lavim protestierte mit einem erschütterten Quieken und duckte sich gerade noch rechtzeitig, um nicht von Hauks Schwert zweigeteilt zu werden. Seine Augen nicht von der glitzernden Klinge lassend, kam Lavim sehr langsam wieder hoch und stellte sich mit dem Rücken zur Wand.
»He, Stanach«, flüsterte er, »meinst du, du kannst ihm beibringen, daß ich ein Freund von dir bin?« Er blickte Hauk an und nickte möglichst nachdrücklich. »Das bin ich wirklich, weißt du. Einmal, da haben ihn in Langenberg fünfundzwanzig Drakonier gejagt, und sie hätten ihn auch erwischt, wenn ich ihm nicht das Leben gerettet hätte. Dann, als die… die Wie-auch-immer-sie-heißen ihn in der Höhle am Fluß gefangenhielten, da haben ich und Tyorl und Kelida ihn gerettet. Und, na ja, Stanach weiß vielleicht nichts davon – aber es stimmt, frag ruhig Tyorl, wenn er kommt! –, da habe ich Pfeifers Zauberflöte benutzt, und wir wären jetzt gar nicht hier, wenn ich uns nicht direkt zu den Bergen teleportiert hätte. Oder – hm, vielleicht nicht ganz direkt in die Berge. Weißt du, von dem Spruch wird einem ein bißchen schlecht, und ich wollte nicht in irgendeinem Haus oder mitten in der Stadt auftauchen und, äh, gleich eine Schweinerei anrichten. Darum sind wir sozusagen im Sumpf gelandet, und – o Götter! – da draußen brennt es vielleicht!« Lavim hatte keine Gelegenheit mehr, weitere Heldentaten aufzulisten, weil er in Stanachs Umarmung fast zerquetscht wurde.
Der breite Erker im Westen von Gneiss’ Arbeitszimmer ging hinaus auf den Garten, dessen Beete in strenger Symmetrie angelegt waren. Das Arbeitszimmer war militärisch karg eingerichtet, die wenigen Wandbehänge zeigten berühmte Schlachten und Feldzüge. Alte und neue Waffen glänzten in den Schaukästen und Vitrinen. Die Einrichtung aus massivem Holz und Stein konnte höchstens auf alte Veteranen einladend wirken, die an die Härten der Schlachtfelder gewöhnt waren.
Doch der langgezogene Garten, der nicht breiter war als die Länge des Arbeitszimmers, war mit seiner Fülle von Blumen, Kräutern und Buschwerk eine der heimlichen Freuden des Daewars. Doch diesmal war es nicht seine Schönheit, die Gneiss wie so oft ans Fenster führte.
Von seinem Platz aus konnte er die Rufe der spielenden Zwergenkinder hören, unter denen auch seine eigenen Enkel waren. Der Lärm und der Anblick des wilden Spiels der Kleinen entlockten dem alten Kämpfer einen Seufzer und ein zufriedenes Lächeln, das selbst seinen Freund Hornfell erstaunt hätte. Ach ja, Hornfell! Wo bist du die letzten Stunden gewesen? Du hättest längst zurück sein müssen, mein Freund. Kündigt dein Schweigen vielleicht die Revolution an, auf die wir uns vorbereitet haben?
Realgar war genausolange nicht gesehen worden. Rüstung klirrte gegen Stein, und Gneiss wandte sich vom Garten ab, um dem Ruf zum Kampf zu antworten. Zwei Menschen und der Halb-Elf Tanis warteten mit erkennbarer Ungeduld am Kartentisch. Tanis und der Ritter Sturm waren über die Karte von Thorbardin gebeugt. Konzentriert fuhr der dunkeläugige Ritter die Straßen nach und verband sie sorgfältig mit Zufahrtswegen und Transportschächten, um sich mit der inneren Struktur der Stadt vertraut zu machen.
Der eine ein Planer, dachte Gneiss, der andere ein Jäger. Ihr Freund, der Kämpfer mit Helm und Rüstung, den Tanis als Caramon vorgestellt hatte, saß neben ihnen. Mit seinen langen Beinen und den enormen Armen war er der größte Mensch, den Gneiss je gesehen hatte. Die drei wirkten hier merkwürdig fehl am Platze. Zu groß, dachte Gneiss. Sie sind allesamt einfach viel zu groß!
Der Zwerg räusperte sich hörbar. Gneiss war in erster Linie ein Feldherr, kein Redner. Ohne Umschweife kam er zur Sache.
»Hornfell ist schon zu lange in Nordtor.« Er nickte Tanis zu. »Es ist schon drei Stunden her, daß er losgegangen ist. Mir gefällt das nicht. Meine Läufer und Kundschafter berichten, daß die Städte zu ruhig sind. Bis auf eine. Im Theiwarlager summt es wie eine Horde Hornissen, die zum Ausschwärmen bereit ist.« Er wies mit der Hand zum Tisch. »An die Arbeit.«
Rasch machte er die drei mit den sechs kleinen Städten des Königreichs bekannt, die gemeinsam als Thorbardin bekannt waren, und skizzierte dann den Verteidigungsplan, den er und Tanis bereits entworfen hatten.
»Ich weiß immer noch nicht, ob Ranze sich erheben wird, um mit Realgars Theiwaren zu kämpfen«, erklärte Gneiss. »Meine Daewars werden mit Hylarentruppen zusammen die Nordwege aus ihrer Stadt versperren.« Er zeigte auf das Südostviertel der Karte und nickte Caramon zu. »Wenn dieser Riese und die Hälfte der Flüchtlinge den Durchgang zwischen der Daergarstadt und den Osthöhlen verteidigen und wenn Sturm mit der anderen Hälfte den Südweg hält, müßten Ranzes Krieger doch eigentlich den größten Teil der Revolution gefangen sitzen, oder?«
Caramon lachte leise. »Worauf Ihr Euch verlassen könnt.«
»Ich verlasse mich auch darauf, junger Mann«, sagte der Lehnsherr ruhig.
Dann wandte sich Gneiss an Tanis. »Ihr würdet mir einen Gefallen tun«, sagte er bemüht höflich, »wenn Ihr den Oberbefehl über Eure Gruppe und die Flüchtlinge übernehmen würdet. Noch Fragen bis hierher?«
Tanis nickte trotz seines eindeutig zufriedenen Lächelns. »Nur eine. Es geht hier um Möglichkeiten.« Er fuhr mit dem Finger über den nordwestlichen Abschnitt der Karte, zu den Städten und Gebieten der Klar und Theiware, und kam dann zu den Ruinen von Nordtor. »Was ist mit den Wahrscheinlichkeiten?«
»Nennt sie Sicherheiten. Denn das sind sie.« Gneiss bohrte einen Finger auf die Theiwarstadt. Sein Schatten lag wie ein Dolch über der genau ausgearbeiteten Karte. »Hier und hier wird der Ärger anfangen. Tufa hat seine Klar bereits zwischen den Theiwaren und dem Urkansee. Sie werden nicht stark genug sein, um diese Schlangen aufzuhalten, aber ich unterstütze sie mit meinen Kriegern.« Jetzt blickte er auf. In seinen Augen stand eine deutliche Warnung. »Zwei Schlachtfelder und dazwischen der Rest der Flüchtlinge. Ihr kennt diese Leute am besten«, fügte Gneiss hinzu. »Setzt sie so ein, wie es Eure beiden Befehlshaber für richtig halten, aber haltet sie so gut wie möglich aus den Städten raus.«
»Etwas streng mit Euren Verbündeten, nicht?« knurrte Caramon.
Gneiss schwieg einen Moment lang, während er um eine Geduld rang, die er sonst nie einem Menschen entgegengebracht hätte. Bei der Schmiede! Er wünschte, er hätte genug Männer, um das hier allein durchzuführen!
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