»Ja, das will ich.«
»O ja«, fauchte Tyorl. »Weißt du, auf was du dich da einläßt?«
»Es kann kaum schlimmer werden als das, was ich schon durchgemacht habe.«
Tyorl wußte keine Antwort. Es war auch egal. Sein Instinkt hatte ihn gestern abend gewarnt, nichts von Finn zu sagen. Jetzt war er froh darüber. Finns Waldläufer warteten jenseits von Qualinesti. Tyorl rechnete fest damit, daß Finn ihre Spur aufnehmen und sie finden würde, bevor Stanach Pfeifer, den Magier, fand. Er würde die ganze Sache dem Anführer der Waldläufer unterbreiten: die Geschichte des Schwertes und die Nachricht, daß Verminaard eine Versorgungseinheit in die Ausläufer des Kharolisgebirges verlegte. Finn würde entscheiden, was zu tun war.
»Also gut, Kelida«, sagte er. »Aber du brauchst warme Kleider.« Er hielt eine Hand hoch, um Stanachs Protest zuvorzukommen. »Ich weiß einen Ort, wo wir etwas für sie stehlen können. Es liegt auf dem Weg.«
Stanach warf ein weiteres Stück Rinde ins Feuer. »Wo?«
»Wo?« echote Lavim immer verwirrter.
»In Qualinost.«Die Sonne brach hinter den tiefhängenden, schieferfarbenen Wolken hervor, und ihre warmen, liebevollen Lichtsäulen reichten bis zur Stadt hinunter. Vier schlanke, spitz zulaufende Türme aus reinweißem Stein erhoben sich genau an den Ecken der Stadt: im Norden, im Süden, im Osten und im Westen. Leuchtende Silberadern durchzogen den schneeweißen Stein der Türme wie Marmor. Hoch über der Stadt entsprang aus dem Nordturm ein scheinbar zarter Bogen und verband diesen mit dem Südturm. Bei den anderen Türmen war es genauso, so daß die Stadt eingebunden war.
Genau im Zentrum der Elfenstadt ragte der elegante Sonnenturm empor, dessen Licht lebendiger wirkte als das der Sonne selbst. Der mit leuchtendem Gold überzogene Turm hatte seit unzähligen Jahren die Stimme der Sonnen beherbergt. Wie ganz Qualinost stand er jetzt leer, nachdem die Stimme ihr Volk und ihre Kinder ins Exil geführt hatte.
Die Elfenstadt Qualinost war nach Elfenentwürfen von Zwergen erbaut worden, zu einer Zeit, wo das Miteinander der beiden Rassen nicht von der heutigen Feindseligkeit bestimmt worden war. Zwischen Trauer und Freude hin- und hergerissen, betrat Tyorl die Stadt, in der er geboren war.
Freude, dachte er, weil ich nie gedacht hätte, daß ich dich wiedersehen würde. Trauer, daß ich dich als die leere, hohläugige Leiche eines einst wundersamen Ortes antreffe, der jetzt nur noch eine kalte Pracht hat.
Der scharfe Wind des Spätherbstes stöhnte durch die verlassene Stadt, schluchzte um die Ecken von Gebäuden, die einst voller Leben gewesen waren. Er raschelte durch die letzten goldenen Blätter von zahllosen Pappeln, die die Straßen säumten. Einst war dieses Geräusch ein ansteckendes Gelächter gewesen, jetzt war es ein müdes, schwaches Klagelied.
Hinter dem Wald hörte Tyorl Stimmen aus seiner Erinnerung. Das leise Lachen seines Vaters, das Lied der Schwester. Wo waren sie jetzt?
Ins Exil geflohen mit dem Rest des Volkes. Tyorl fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen und Fragen loszuwerden.
Die Häuser und Geschäfte und alle Gebäude von Qualinost bestanden aus Quarz in der Farbe der Morgendämmerung. Auch sie waren jetzt leer, ihre Fenster dunkel, die Eingänge voller Schatten und Echos von Erinnerungen, die nur Tyorl wahrnahm. Breite Streifen aus schimmerndem, zersprungenem Stein markierten die Straßen und Alleen von Qualinost. Entlang dieser glitzernden Pfade waren überall schwarze Feuerstellen und graue Aschehaufen, die die Straßen von Qualinost wie schmutzige Daumenabdrücke befleckten.
Kelida, die sich zitternd und schweigend neben Stanach hielt, lehnte an dem dicken, grauen Stamm einer Pappel. Die Stadt war nicht verwüstet worden, war nur leer, doch sie fühlte dieselbe Verzweiflung, die sie empfunden hatte, als sie auf das schwarze Holzskelett ihres eigenen Hauses geschaut hatte.
Stanach konnte Tyorls Trauer verstehen: Auch für ihn stellte das Heim in den Bergen den größten Reichtum seines Lebens dar. Er sah von Tyorl zu Kelida – der eine heimatlos, die andere clanlos – und erschauerte.
Es war Lavim, der schließlich das Schweigen brach. Nichts in seiner tiefen, unbeschwerten Stimme verriet, ob er die Trauer des Elfen oder das Mitleid des Zwergs spürte. Er tauchte neben Tyorl auf und zeigte auf den nächsten Aschehaufen.
»Tyorl, was ist das? Es sieht aus wie Reste von Lagerfeuern, aber dazu sind es viel zu viele.«
Tyorl sah auf den Kender herunter. »Das waren keine Lagerfeuer, Kenderchen. Ich war nicht dabei, aber man erzählte mir, daß die Leute das meiste verbrannt haben, was sie nicht ins Exil mitnehmen konnten. Es sind Reste von Bestattungsfeuern, und was da bestattet wurde, war unsere Art zu leben.«
Lavim steckte seine blaugefrorenen Hände unter die Arme. »Was für eine Schande. Wenn du mich fragst, Tyorl, ist Verbrennen das Schlimmste. Was es auch war, ich hätte es versteckt oder in meinen Beuteln mitgenommen oder an einen Gnomenhändler verkauft. Verbrennen ist so eine Verschwendung. Jetzt muß man noch mal von vorne anfangen.«
»Es wäre nie wieder dasselbe. Es hat sich verändert.« Er hätte auch sagen können: ›Es ist vorbei‹ oder ›Es ist tot‹.
Stanach schüttelte den Kopf. »Alles Lebende verändert sich«, sagte er leise, »anscheinend sogar Elfen.«
Tyorls blaue Augen, die eben noch vor Traurigkeit weich gewesen waren, wurden nun von einem eisigen und harten Schimmer überzogen. »Nein, Zwerg. Wir haben uns seit vielen Jahrhunderten nicht verändert. Die einzige Veränderung, die Elfen kennen, ist der Tod.«
Stanach schnaubte ungeduldig. Jetzt tat ihm sein zaghafter Versuch, Trost zu spenden, fast leid. »Dann bist du schon tot, Tyorl, und verschwendest gute Luft, die andere atmen könnten. Deine Stadt, deine Art zu leben hat sich verändert. Vielleicht sollten wir dich nicht für einen Elfen, sondern für einen Geist halten, was?«
Tyorl holte Luft, um zu antworten, drehte sich dann aber zu der stillen Stadt um. »Vielleicht.«
Lavim sah zu, wie Tyorl Kelida wegführte. Seine Augen verengten sich, und er zwirbelte abwesend das Ende seines dicken, weißen Zopfes um einen Finger. »Stanach«, sagte er, »wenn die Elfen alles verbrannt haben, bevor sie gegangen sind, wie will Tyorl dann etwas zum Anziehen für Kelida finden?«
Stanach zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Seit wir hier angekommen sind, ist dieser verdammte Elf mehr Gespenst als alles andere. Vielleicht kann er etwas für sie heraufbeschwören.« Stanach begab sich auf den Weg die Straße hinunter. »Los jetzt, Lavim. Je schneller wir hier rauskommen, desto besser.«
Lavim gesellte sich zu dem Zwerg. Er wußte immer noch nicht einmal die Hälfte von dem, was hier vor sich ging. Kelidas Schwert, irgendein vermißter Waldläufer und ein paar zwergische Lehnsherren spielten eine Rolle dabei. Und wer war Pfeifer?
Ein kleiner Hirsch aus Holz, den die Kunst des Schnitzers im anmutigen Sprung gebannt hatte, lag in einem verhedderten Wirrwarr aus Silberketten und goldenen Ohrringen gefangen. Stanach griff nach dem Eichenhirsch und befreite ihn so vorsichtig, als wenn er lebendig wäre. Er drehte ihn selbstvergessen um und lächelte dann. In den Bauch des Hirsches war mit tiefen Schnitten ein stilisierter Amboß eingeritzt, der von einer Zwergenrune, einem F, zerteilt wurde. Eine Zwergenarbeit.
Stanach legte den Hirsch sorgsam beiseite und sah sich um. Das Zimmer war eine einzige Rumpelkammer.
Kunstvoll geknüpfte Wandbehänge, gewebte Teppiche und weiche Kissen, deren Muster aus hellen Seidenfäden gestickt waren, lagen achtlos im Raum verteilt, als hätte man sie in verzweifelter Hast hingeworfen. Ein großer, eleganter Kleiderschrank, der mit einer zarten, stilisierten Jagdszene bemalt war, lag da, wo er während eiliger Vorbereitungen fürs Exil umgefallen war.
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