Ein kalter Windstoß fuhr durch das Zimmer. Nebel quoll aus dem Boden, und der Wandbehang wehte hoch. Sir Gabriel wurde immer größer, bis er Bayard und Sir Robert zu überragen schien, die beide überrascht vor der seltsamen, sich vor ihnen verwandelnden Gestalt zurücktraten.
Die mit lauter Stimme sprach, so daß das Glas im Fenster zersprang und ich mich unter meinen Decken verkroch.
In der Dunkelheit hörte ich ein Schlurfen, das Geräusch von zerreißendem Stoff, den scheußlichen Klang von noch mehr zerbrechendem Glas. Und alles wurde übertönt von der Stimme des Skorpions.
»Die Wahrheit ist, Sir Robert, daß Ihr mich erneut um mein Geburtsrecht bringen wollt! Und das, nachdem ich alle Regeln befolgt habe! Nachdem ich fair gekämpft habe und mit all Euren Prinzen und Gecken im Turnier herumgetanzt bin, mein Visier hochgeklappt und auf das Kommando einer scheppernden, solamnischen Trompete meine Lanze abgelegt habe!
Oh, ihr Ritter seid ja so verliebt in eure angebliche Ehre, die Worte und Gesten der alten Schule, aber trotz all diesem Getue reißt Ihr an Euch, was rechtmäßig mir gehört.
Ihr habt mir ein großes Unrecht angetan, Robert di Caela!« schrie er, und ich hörte, wie noch etwas zu Bruch ging.
»Aber nichts…«
Seine Stimme senkte sich zu einem ruhigen Tonfall, der weitaus furchterregender war als das Geschrei von eben.
»Nichts im Vergleich zu dem Unrecht, das ich Euch antun werde.«
Sir Robert schrie wütend auf. Ich hörte, wie ein Möbelstück umkippte, grub mich ans Licht und spähte gerade rechtzeitig aus den Decken, um zu sehen, wie der Skorpion dem angreifenden Sir Robert auswich und zur Tür sprang, die mein Bruder Brithelm versperrte. Auf halbem Wege zur Tür blieb er stehen, warf sich wieder herum und sprang schnell mit merkwürdig linkischen Sprüngen wie ein gefangener Raubvogel zum zerbrochenen Fenster und nach draußen, wobei sein Mantel an einer zackigen Scherbe am Fensterbrett hängenblieb und zerriß.
Bayard sprang zum Fenster und sah nach draußen und nach unten. Er drehte sich achselzuckend zu uns um.
»Wie vom Erdboden verschluckt«, erklärte er schlicht.
Sir Robert zog sein Schwert und spaltete dem letzten Stuhl, der im Zimmer noch stand, die Rückenlehne.
Brithelm saß auf der Bettkante und plauderte, während ich am Kamin stand und die Laute stimmte, die er mir mitgebracht hatte.
»Was für eine glückliche Fügung des Schicksals, nicht wahr, daß der, der dich während deiner Krankheit am besten versorgen konnte, ausgerechnet dein langvermißter Bruder war, den du erst eine Stunde oder so, bevor du ihn so dringend brauchtest, wieder getroffen hattest?«
»Ja, Brithelm«, erwiderte ich höflich und taktvoll. »Ich muß schon sagen, daß es bei dieser Angelegenheit jede Menge glückliche Fügungen gegeben hat. Ist sie«, ich meinte die Laute, »jetzt gestimmt?«
»Ich denke, daß sie durchaus mit irgend etwas übereinstimmt. Aber wohl nicht mit sich selbst.«
Ich seufzte und fing wieder an, wobei ich der alten Gnomenregel folgte: »Wenn die Tonlage nicht ganz stimmt, Saite fester ziehen.«
»Wieso bist du eigentlich noch hier, Brithelm?« fragte ich. »Ich dachte, du hättest dich freiwillig zurückgezogen, um so eine Art Sumpfheiliger zu werden.«
Er stand vom Bett auf und kam zum Kamin, wo er sich neben mir die Hände an den roten Kohlen wärmte.
»Ich wollte mich schon zurückziehen, Brüderchen, aber ich mußte in die Welt zurückkehren, um meinem Bruder in Not beizustehen. Ich diene hier als Referenz für Alfriks Charakter, der sich um die Hand der Lady Enid di Caela bewirbt«, verkündete Brithelm ernsthaft.
Eine Saite riß, weil ich sie zu fest angezogen hatte. Sie summte, federte und sprang peitschend gegen meine Hand. Brithelm zuckte bei dem Geräusch zusammen.
»Referenz für seinen Charakter? Um Humas willen, Brithelm, es ist nahezu unmöglich, Charakter bei unserem Bruder zu finden, geschweige denn dafür zu bürgen. Wie um alles in der Welt hat er dich da reinziehen können?«
Ich starrte Brithelm durchdringend an.
»Tja, ich verstand ja, daß sein ganzes Gerede von Heldentaten nur Gerede war, aber schließlich hatte Vater ihn geschickt. Alfrik hat mir erzählt, daß er Tag und Nacht davon träumt, Lady Enid zu heiraten. Er hat Vater gebeten, ihm den ›Notritterschlag‹ zu erteilen, der ihm natürlich gestattet hätte, am Turnier teilzunehmen – «
»Moment mal, Brithelm. Den ›Notritterschlag‹?«
»Darüber weißt du sicher mehr als ich, Galen. Du hast den Kodex von Solamnia studiert, während ich mich der Theologie zugewandt habe.
Aber ist das nicht diese Ersatzzeremonie, die der Orden vor einem Turnier gewährt, bei dem der Ehemann für eine Tochter aus alter Familie gewählt wird? Jungen Burschen, die noch keine Knappen sind, dies aber beabsichtigen, wird gestattet, die Knappschaft als solches zu überspringen. Man geht sofort zum Ritterschlag über, den Vater in unserer Abwesenheit in der Wasserburg vollzogen hat, so daß Alfrik ein Ritter ist und daher Enid di Caela heiraten dürfte.«
»Das hat dir Alfrik über diese Zeremonie erzählt, Brithelm?«
Das war einfach die dreisteste Lüge, die ich je gehört hatte – nicht die grausamste, die einfachste oder die verschlagenste, sondern gewiß die dümmste. Es gab ein Dutzend Stellen hier im Schloß – so viele, wie Ritter da waren –, wo Brithelm leicht erfahren konnte, daß es nichts dergleichen wie einen ›Notritterschlag‹ gab. Etwas Seltsames in Alfriks Hirn mußte diese halbtrunkene Idee ausgebrütet haben.
Da alle meine Feinde unterwegs waren, war es vielleicht dämlich, nachts draußen herumzulaufen, aber genau das tat ich. Es war kein Problem, den Burgfried des Schlosses zu umgehen, nachdem ich einen Diener nach einem Plätzchen gefragt hatte, wo ich in Ruhe nachdenken konnte. Nachdem der Skorpion aus dem Fenster gesprungen und verschwunden war, glaubte natürlich keiner von uns, daß wir aus dem Schneider wären, besonders als Bayard und ich uns die verschiedenen Begegnungen mit dem Skorpion ins Gedächtnis riefen – wie er jedesmal auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, nur um in neuer und ebenso tödlicher Gestalt zurückzukehren.
Als ich Sir Robert von den Drohungen des Skorpions bezüglich Enids Leben erzählt hatte, überflutete der alte Mann den Hof von Kastell di Caela mit bewaffneten Wachen.
Man konnte nirgends im Mondschein Spazierengehen, sitzen oder herumstehen, ohne gleich von übereifrigen Beschützern angesprochen zu werden – sofort kam das »Wer da?«, dem ein Schwall von Fragen folgte, was man im Schloß zu suchen hatte und warum man noch bei Nacht unterwegs war; Fragen, die den Familienstammbaum auf fünf Generationen prüften, wobei durchaus die Möglichkeit bestand, daß irgendein entfernter unsolamnischer Vorfahre einem eine Nacht im Wachhaus einbringen konnte.
Deshalb war der Obstgarten eine willkommene Abwechslung. Dort hatte ich mir zwischen den Pfirsich- und Birnbäumen unter Lady Enids Fenster ein Lager eingerichtet.
Die Wachen umkreisten den Obstgarten in einiger Entfernung, und hin und wieder riefen sie einander etwas zu. Doch Lady Enids Garten war anscheinend ihr ganz privates Refugium, und nachdem die Wachen ihn am frühen Abend sorgfältig durchsucht hatten, ließen sie ihn in Ruhe. Schon eine Stunde nach Anbruch der Nacht war er voller Nachtigallen und Eulen, die in den Bäumen ihren alten Wettstreit austrugen.
Es waren nicht nur echte Vögel da, sondern auch Vögel aus immergrünen Gehölzen. Der Obstgarten war auch ein Ziergarten, in dem Büsche in vielerlei Formen zu kleinen Tieren und Vögeln zurechtgestutzt waren. Es gab Eulen und Nachtigallen und Eichhörnchen und Kaninchen, die aus Wacholder, Ewigkeitsbaum und anderen Gewächsen geschnitten waren.
Eine Zeitlang stand ich da, starrte zu dem schwachen, flackernden Licht aus Enids Fenster empor und atmete die starken, frischen Düfte des Obstes und der Büsche ein. Dieser Ort war der Traum jedes Romantikers und wurde nur durch den gelegentlichen, entfernten Ruf einer Wache gestört. Ich wich gegen eine Wacholdereule zurück, wo ich in Ruhe die Düfte, die Lieder der Vögel und das weiche Licht genießen wollte.
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