»Klappe. Ich habe dir lange und oft zugehört. Aber hat sich jemals jemand um Alfrik gekümmert? Hat jemals jemand gefragt, was Alfrik gefallen würde?«
»Nun, ich…«
»Klappe.« Seine Stimme war etwas zu laut. Er hielt inne und sah sich um. »Ich habe es satt, mich immer um andere zu kümmern, immer der besorgte ältere Bruder zu sein. Was ich viel lieber möchte, ist, etwas Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, damit ich einmal etwas für mich und nur für mich allein tun kann.«
Ein Hauch von Schmerz und Angst glitt über sein Gesicht. Die Szene hätte mitleiderweckend sein können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß Alfrik in jedem wachen Moment seit seiner Kindheit darauf aus gewesen war, etwas für sich und nur für sich allein zu tun.
»Und du wirst mir dabei helfen, kleiner Bruder. Du und deine Worte und deine Dreistigkeit«, grollte Alfrik, wobei er einen Zweig vom Busch brach und ihn irritierend vor meiner Nase herumschwenkte. Der scharfe, minzeartige Geruch der roten Nadeln brachte mich fast zum Niesen.
»Sieh mal«, fuhr Alfrik fort, »ich werde jetzt wieder da auf die Lichtung an der Burgmauer gehen, wo Lady Enid mich genau im Blick hat. Von da aus kann ich ihr den Hof machen. Du versorgst mich mit Versen für sie, Wiesel.«
Unvermittelt zerrte er mich am Kragen unter Enids Fenster zurück, wo er mich auf Armeslänge hochhielt und mitten in eine Wacholdernachtigall hängte. Ein ziemlich buschiges, überwachsenes Ding, das unter einem der höheren Birnbäume saß.
Ich versteckte mich, während Alfrik teilweise sichtbar und sehr romantisch zwischen Mondschein und Schatten auf der Lichtung stand. Er stand – und ich baumelte – eine gute Minute lang schweigend da, bis mir klar wurde, daß er darauf wartete, daß Enid ans Fenster trat.
»Sie wird sich nicht zeigen, Alfrik, wenn du sie nicht wissen läßt, daß du hier draußen bist.«
Ich hustete und würgte, weil mein Kragen sich fester zuzog. Er ließ mich trotzdem am Baum hängen.
»Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame«, flüsterte ich.
»Was?«
»›Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame.‹ Das ist deine erste Zeile.« Ich fand einen Zweig mitten im Busch, auf den ich einen Teil meines Gewichts verlegen konnte, wodurch ich etwas den Druck von meinem Hals nahm.
»Verstehe ich nicht«, murmelte Alfrik. Eine Hand drückte mich noch tiefer in die Nadeln und Zweige, während er sich mit der anderen am Kopf kratzte.
»Du wolltest ein Gedicht, Alfrik. Ich gebe dir gerade die erste Zeile.«
»Hab ich schon wieder vergessen.«
»›Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame‹, verdammt noch mal!«
»Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame, verdammt noch mal!« schrie er laut unter Enids Fenster. Stille. Hinten im Zimmer flackerte ein Lichtschein, der von den obersten Zweigen des Baumes reflektierte. Alfrik sah zu mir, weil er die nächste Zeile erwartete. Ich reimte, so schnell ich konnte.
»Solange im Garten die Lichter tanzen.«
»Was?«
»Deine zweite Zeile«, erklärte ich. »›Solange im Garten die Lichter tanzen.‹«
»Ganz sicher, daß sie was über einen Garten hören will?« flüsterte Alfrik. »Wollen Mädchen nicht lieber etwas über sich selbst hören?«
»Gleich, Bruder«, erwiderte ich, während ich mich seiner Hand entzog und in die Zweige der Nachtigall kroch. »Zuerst sorgst du für die richtige Stimmung. Die Dichter nennen das ›Atmosphäre erzeugen‹.«
Alfrik starrte in den Vögelbusch und suchte ihn lange und mißtrauisch nach mir ab. Schließlich gab er auf, drehte sich wieder zum Fenster um und deklamierte laut:
»Solange im Garten die Lichter tanzen.«
Ein erstickter Ton kam vom Fenster herunter.
Lachen? Wer konnte das sagen?
Ich dichtete einen Moment schweigend, um dann meinem Bruder vorzusprechen. »Solang’ der Mond tief am Abendhimmel schwebt, getragen von den Schwingen der Nacht.«
»Was?«
»Um Humas willen, Alfrik, sperr die Ohren auf und hör zu, was du sagen sollst! Es ist nicht gerade Quivalen Soth, aber für eine Romanze im Garten reicht es!«
Er drehte sich zum Fenster um und sprach laut:
»Solang’ der Mond am Abend tief steht und irgendwas bei Nacht passiert.«
Ich fand meine Zeile gar nicht so schlecht, aber so wie Alfrik sie auslegte, war sie schauderhaft.
»Toll, Alfrik«, schimpfte ich. »Einfach großartig. Mit so einem Lobgesang könntest du nicht einmal Lexine, die Tochter des Kochs, für dich gewinnen.«
Auf einmal hörten wir über uns aus Enids Zimmer einen lauten, verzweifelten Angstschrei. Nachdem der Schrei verklungen war, war es im Schloß und im Obstgarten furchtbar still.
Verwundert zog Alfrik mich aus der Nachtigall. Wir starrten einander an – der dumme Kinderblick, wenn man etwas kaputtgemacht hat und dann dasteht und versucht, den anderen einzuschätzen: »Kann ich ihm soweit vertrauen, daß wir Stillschweigen verabreden?« oder »Ist er dumm genug, daß ich ihm die ganze Schuld dafür zuschieben kann?«
Während wir uns anstarrten, senkte sich Stille über die Büsche und Schatten um uns herum. Die Vögel, die bei Alfriks Dichtkünsten unbeeindruckt weitergesungen hatten, schwiegen jetzt bei den Schreien von oben.
Denn über uns hörten wir Bewegungen, Durcheinander und unablässige Schreie.
Ich wollte zur Burgmauer rennen, weil ich irgendwie daran hochklettern und durch Enids Fenster stürmen wollte…
Doch Alfriks Hand hielt mich zurück. Mein Bruder warf sich in den Nachtigallbusch zurück und zog mich mit.
Es war dieser Vogel, der uns verschluckte – meinen Bruder und mich –, als in Enids Fenster Schatten auftauchten. Wie gelähmt beobachteten wir aus dem Busch heraus, wie sich ein finsterer Kegel aus dem großen Burgfenster hob und dieser Schemen rasch die Wand hinunter kletterte.
Im Mondlicht bewegte er sich rasch über den Hof. Doch weder das rote, noch das weiße Licht konnten die dichte Undurchsichtigkeit durchdringen. Die Oberfläche war pockennarbig und getupft wie geschmolzenes Wachs, das mit kaltem Wasser abgelöscht worden war.
Von drinnen glaubte ich Schreie zu hören.
Ich kämpfte mit den duftenden, grünen Zweigen um mich herum. Noch einmal versuchte ich, mich von meinem Bruder loszureißen, um die Burg zu erstürmen und die bedrängte Maid zu retten, wie das jeder gute Ritter in jeder alten Geschichte tun würde. Doch Alfrik hielt mich nur noch fester, zog wieder sein Messer und drückte es mir unangenehm in die Rippen. Es war erfrischend, nicht der feigste Pfadwächter zu sein.
Im unsteten Mondlicht sah ich den Schatten rasch auf das Tor zuhuschen. Zwei brüllende Wachen liefen fast gleich schnell, als sie verzweifelt versuchten, ihm den Weg abzuschneiden.
Der Schatten legte an Tempo zu, als wenn ihn etwas von innen lenkte und mit wachsendem Willen und Dringlichkeit antrieb. Er traf sie mit einem scharfen, klatschenden Geräusch, wobei sie umfielen.
Ihre Schreie waren unbeschreiblich.
Da hörte ich wieder die Schreie aus dem Fenster über mir dringen. Sie waren nicht mehr erstickt, sondern nur irgendwie gedämpft, als wenn die, die schrie, weit weg war, und als wenn der Ton mich aus der Ferne und viel zu spät erreichte.
Der Schatten wurde immer kleiner, als er durch das Tor in den Außenmauern des Schlosses verschwand und von da aus irgendwo in den Ebenen verschwand. Die Richtung war mir nicht klar.
»Alfrik!« rief ich laut. Hinter mir war nichts zu hören, außer brechenden Zweigen, Schluchzen und dem Geräusch, wie etwas Großes und Trampliges in der Finsternis verschwand.
»Verdammt!« murmelte ich und wollte meinem Bruder folgen. Die Schreie über mir hielten mich davon ab.
Wenn ich heute daran denke, scheint es das Dümmste zu sein, was ich je getan hatte, zumindest bis dahin. Na ja, dem Skorpion beim Diebstahl der Rüstung zu helfen, war vielleicht fast genauso genial.
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