Alles in ihr schrie nach Rache.
Rache für Wanja.
Rache für Jahn.
Rache für all die anderen armen, unschuldigen Seelen, die diesem Albtraum zum Opfer gefallen waren ...
Der graue Fleck wurde zunehmend heller und größer, bis sich ein Rechteck aus der Dunkelheit schälte, wie eine offene Tür, hinter der ein sanftes, stetes Licht brannte. Sie gingen unbeirrt darauf zu, und gerade, als sie nah genug waren, dass Zara auffiel, dass irgendetwas an dem Licht seltsam war, flüsterte Jael hinter ihr eindringlich ihren Namen: „Zara.“
Die Vampirin drehte sich fragend um.
Die Seraphim deutete mit grimmiger Miene auf die Wand des Tunnels, aus der mehrere Strünken Wurzelwerk ragten, dicke runde Baumwurzel, wie sie sie auf dem Weg durch den Tunnel zu Hunderten gesehen hatten. Deshalb war Zara im ersten Moment nicht sicher, was Jael von ihr wollte. Dann jedoch schaute sie genauer hin und stellte fest, dass es keine Wurzeln waren, die da aus dem Erdreich lugten, sondern – Knochen! Und als sie sich überrascht umschaute, erkannte Zara, dass rings um sie überall Knochen aus den Tunnelwänden und der Decke ragten – Schädel, Schienbeine, Ellbogen, Rippen – und dazwischen unzählige verfaulte, wurmzerfressene Holzsplitter, die aussahen, als stammten sie von ...
„Särge“ , murmelte Zara. „Das sind Särge.“ Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was das bedeutete. „Wir sind unter dem Friedhof!“ Sie sah wieder nach vorn, zu dem Licht. „Dann muss das da die Kirche sein.“
„Oder die Pfarrei“, sagte Jael.
„Wir werden sehen“, brummte Zara grimmig, setzte sich wieder in Bewegung und folgte dem von menschlichen Gebeinen gespickten Tunnel weiter auf das Licht zu, das mit jedem Schritt heller wurde, und dann wurde ihr auch endlich klar, was es war, dass ihr daran so seltsam vorkam.
Der Lichtschein war grünlich; ein kaltes grünes Licht, das seinen matten Schein in den Tunnel warf und alles in eine seltsame, unwirkliche Helligkeit tauchte, fast so, als befände man sich auf dem Grund des Meeres. Dann hatten sie schließlich das Ende des Tunnels erreicht, traten durch das erleuchtete Rechteck, das sich als grob gemauerter Durchgang erwies, wie ein Türrahmen ohne Tür, und sie standen in einer unterirdischen Kammer von vielleicht zehn Schritten Länge und acht Schritten Breite.
Es war ein Ort der Verbotenen Künste.
Das seltsame grüne Licht erfüllte die gesamte Kammer mit seinem unwirklichen Schein und zeigte ein Wirrwarr magischer Schriften, Zeichen, Kritzeleien und Symbole an den gemauerten Steinwänden. Wie schon im Versteck der Bestien war auch hier nahezu jeder Quadratzentimeter mit dem schwarzmagischen Gekritzel bedeckt, nur dass es sich hierbei nicht um Bannsprüche handelte, sondern um Zauber, die so widerwärtig und bizarr waren, dass Jael bei ihrem Anblick erbleichte. Und dabei waren die Kritzeleien noch das Harmloseste in dieser Hexenküche, denn als sich Zara neugierig umsah, stellte sie fest, dass dieser Raum einem einzigen Zweck diente: der Anrufung und Anbetung der Schwarzen Mächte. Überall an den Wänden baumelten Sträuße mit getrockneten magischen Kräutern und Pflanzen – Silberdistel, Hexengrün, Harnischwurz, Eisenhut, Tollkirsche, Mutterkorn, Stechapfel und sogar Alraune –, in einem Regal reihten sich Einmachgläser mit Alkohol und tierischen Innereien, und von der Decke baumelten die Kadaver von Katzen und Schwarzwiesel, deren beißender Verwesungsgestank sich mit dem stechende Geruch der getrockneten Zauberkräuter zu einer Übelkeit erregenden Mischung vereinte.
Während die Tische und Regale unter der Last uralter staubiger Wälzer, Zauberbücher, Folianten und verschiedenster Zauberutensilien ächzten, befand sich in der Mitte der Kammer eine freie Fläche, wo ein Pentagramm von vielleicht drei Metern Durchmesser auf den Boden gemalt worden war. In Mittelpunkt des Pentagramms stand ein wuchtiger Dreifuß aus Eisen, auf dem eine große runde Schale aus schwarzem Onyx thronte, und in der Mitte der Onyxschale wiederum brannte eine säulenartige grüne Flamme, die statt Wärme eine eisige Kälte abgab.
Rings um die große Flammensäule brannten zwölf kleinere Flammen in der Schale, die sich von unförmigen schwarzen Klumpen näherten und die Hauptflamme mit Nahrung zu versorgen schienen. Im ersten Moment konnte Zara sich auf die Klumpen keinen Reim machen, doch als sie näher herantrat, erkannte sie, dass es sich dabei um Herzen handelte – um die brutal herausgerissenen Herzen der zwölf Jungfrauen, die den Bestien zum Opfer gefallen waren ...
Zara starrte auf die brennenden Herzen in der Schale, die der Flamme in der Mitte ihre Kraft zu geben schienen.
„Verdammtes Teufelszeug!“, rief sie und trat den Dreifuß mit der grünen Flamme in ohnmächtiger Wut um. „Elender, verfluchter Hokuspokus!“
Der Dreifuß stürzte mit einem harten Scheppern zu Boden. Die Onyxschale zerbarst mit einem gewaltigen Knall in winzige schwarze Splitter, und im gleichen Augenblick erlosch die große grüne Flamme. Auch die Herzen, die außerhalb des Pentagramms landeten, erloschen, doch die im Innern des magischen Symbols brannten weiter, wenn auch bei weitem nicht so stark wie zuvor.
Zara stand keuchend inmitten des Pentagramms und rang um Fassung.
„Das ändert gar nichts“, sagte Jael neben ihr düster und starrte auf die brennenden Herzen hinab. „Das Ritual wurde vollzogen. Der schwarze Zauber wirkt bereits ...“
Zara starrte ihre Begleiterin düster an. Sie wollte Jael gerade fragen, was das für ein verdammter Zauber sei, für den ein Dutzend junger Frauen hatten sterben müssen, als sie unvermittelt einen kühlen Hauch im Nacken spürte, wie von einer plötzlichen Bewegung. Zara wirbelte herum – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie durch einen fleckigen Vorhang an der hinteren Wand eine stämmige Gestalt in die Kammer stürmte, die mit sich überschlagender Stimme einen Zauberspruch rief: „ Increduli futurum caeci!“
Bevor Zara erkennen konnte, wer der Zauberer war, explodierte die ganze Kammer in gleißendem Licht, heller als der Schein der Sonne. Zara riss instinktiv die Hände vors Gesicht, um ihre Augen zu schützen, doch die plötzliche Helligkeit traf bereits ihre Netzhäute, und auf einmal verwandelte sich alles um sie herum in grelles Weiß.
„Verdammt!“, schrie Jael hinter ihr. „Ich kann nichts mehr sehen!“
Auch Zara stieß einen Fluch aus und drehte sich geblendet im Kreis, die Hände leicht von sich gestreckt. Sie versuchte, in dem Weiß ringsum die Silhouette des Zauberers auszumachen, der so unerwartet in der Kammer aufgetaucht war. Wie eine Blinde wankend, tastete sie sich vorwärts, alle Sinne bis zum Äußersten gespannt. Der Zauberer war ganz in der Nähe, sie konnte seine dunkle Anwesenheit spüren. Er belauerte sie, und sie meinte zu hören, wie er in gebührendem Abstand leise um sie herumschlich.
„Wer seid Ihr?“, keuchte Jael. „Was hat das alles zu bedeuten?“
Keine Antwort.
„Warum mussten all diese Menschen sterben?“, drängte sie.
Erneut: nur Schweigen.
„Vielleicht weiß er es selbst nicht“, meinte Zara. „Vielleicht ist all das nur das sinnlose Werk eines Wahnsinnigen. – Seid Ihr wahnsinnig?“, wandte sie sich provozierend an den Unsichtbaren, doch wenn sie gehofft hatte, ihn damit aus der Reserve zu locken, irrte sie sich.
Zara drehte sich vorsichtig um sich selbst, umgeben von grellem Weiß, und versuchte, Zeit zu gewinnen, denn solange sie ihren Gegner nicht sehen konnte, war es ihr so gut wie unmöglich, sich gegen ihn zu verteidigen. „Die Bestien“, sagte sie, auf jedes noch so leise Geräusch in ihrer Nähe lauschend, „das waren Eure Geschöpfe, nicht wahr? Ihr habt sie gezüchtet, damit sie für Euch die Drecksarbeit erledigen, weil Ihr selbst dazu nicht genug Mumm habt. Ist es nicht so?“
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