Jael nahm es ebenfalls wahr. „Böse Schwingungen“, raunte sie hinter Zara, die Stimme respektvoll gedämpft. „ Ganz böse Schwingungen ...“
Zara sagte nichts und ging unbeirrt weiter. Längst waren die letzten Reste Morgenlicht hinter ihnen zurückgeblieben, als fürchtete sich das Licht, in diese dunklen Tiefen vorzudringen. Doch sowohl Zara als auch Jael hatten keine Schwierigkeiten, sich im Dunkeln zurecht zu finden. Und dann hatten sie schließlich die letzte der dreiundvierzig Stufen hinter sich gelassen und standen in dem gewölbeartigen Keller des alten Herrenhauses, der sich vor ihnen etliche Meter weit in die tintige Schwärze erstreckte. Wie es schien, verlief der Keller unter dem gesamten Anwesen, ein gewaltiges, ausgedehntes Gewölbe mit einer hohen, wabenförmigen Decke und gemauerten Stützpfeilern, die das trugen, was vom Haus über ihnen noch übrig war. In eisernen Ösen entlang der Wände staken in regelmäßigen Abständen Fackeln, doch keine von ihnen brannte, und die beiden Frauen benötigten sie nicht, um hier unten sehen zu können. Außerdem wirkte dieser Ort, als wäre er eher für die Dunkelheit geschaffen und nicht fürs Licht.
Am Fuß der Treppe stehend, ließ Zara ihren Blick durch das Kellergewölbe schweifen, und das, was sie sah, verursachte ihr Übelkeit.
Dies hier war das Versteck der Blutbestien, daran bestand kein Zweifel, und doch erinnerte der Keller mehr an einen Stall als an eine Höhle. Vor ihnen befanden sich ein halbes Dutzend massive Holzverschläge mit schweren Schlössern an den Türen sowie mehrere Käfige aus armdicken Eisenstangen, groß genug, dass darin eine Bestie Platz finden konnte. Um die Verschlage herum waren Kreise aus Hexenpulver gezogen, und überall auf dem Boden lag Stroh verstreut, das betäubend nach Urin stank, doch die Vampirin unterdrückte ihren Ekel, setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und ging weiter in das Kellergewölbe hinein.
Alles, was sie sah, führte nur zu einem einzigen Schluss.
Jael sprach aus, was auch Zara dachte: „Irgendjemand hat die Blutbestien hier gehalten wie Haustiere“, raunte sie gepresst, während sie Zara durch den Parcours der Käfige folgte.
Zara antwortete ihr nicht. Ihr Blick glitt konzentriert zwischen den einzelnen Verschlagen hin und her, immer in der Erwartung, aus einem der Käfige von einer Blutbestie angesprungen zu werden. Doch alle Verschlage, an denen sie vorbeikamen, waren leer. Alles, was sich darin fand, waren von Fäkalien besudeltes Stroh und zerbeulte Blechschüsseln, in denen eine stinkende dickflüssige, schwarzbraune Masse schwappte, von der brummend Heerscharen von Fliegen aufstiegen, als Zara in einen der Verschlage trat, in die Knie ging und ihren Zeigefinger in die Brühe steckte. Sie rieb die rotbraune feuchte Masse zwischen den Fingern und schnupperte. „Blut“, sagte sie knapp. „Von Jungfrauen.“
„Dann wurden die Bestien so auf den ,Geschmack’ gebracht“, sagte Jael.
Zara nickte düster.
„Jungfrauenblut wird nur für die allerschwärzeste Magie gebraucht“, sagte Jael düster. „Was auch immer hier vorgeht, wir haben es hier mit starken schwarzmagischen Kräften zu tun.“
Die Vampirin richtete sich auf, breitete die Arme aus und weis auf die Kellerwände. „Na, darauf wäre ich jetzt beim besten Willen nicht gekommen“, meinte sie spöttisch.
Jael schaute sich stirnrunzelnd um, und ihr ohnehin schon blasser Teint wurde noch bleicher, als sie die unzähligen schwarzmagischen Kritzeleien und Symbole gewahrte, mit denen jeder Zentimeter der Kellerwände, der Boden und sogar die Decke vollgekritzelt waren: Drudenfuße, auf dem Kopfstehende Pentagramme, umgedrehte Kreuze, altancarianische Ziffernfolgen, seltsam ineinander verschlungene Symbole, die Zara noch nie gesehen hatte, alle möglichen Hexenkreise und Beschwörungsformeln und lange Textpassagen in uralten verbotenen Sprachen, manche davon so alt, dass selbst Jael sie nicht kannte. Viele der Kritzeleien waren mit schwarzer Kreide auf den Stein geschmiert, doch der Großteil war mit Blut geschrieben, und von der Decke hingen alle möglichen Arten seltsamer Amulette, Traumfänger und Talismane, die meisten davon aus Menschenknochen oder irgendwelchen verwesten Tierinnereien, deren bittersüßer Verwesungsgestank Schwärme von Fliegen angelockt hatte, dicke, grünblau glänzende Brummer, die hier unten, fernab der Winterkälte, fett und träge wurden.
„Grauenvoll“, sagte Jael, seltsam matt, fast so, als würde ihr der Anblick all dieser schwarzmagischen Symbole und Zeichen auf mystische Weise die Kraft aussaugen, doch sie konnte die Augen nicht von der Blasphemie an den Wänden wenden. „Wer immer für das hier verantwortlich ist, er kennt sich bestens in den Verbotenen Küsten aus. Manche dieser Beschwörungen und Symbole sind älter, als selbst ich zu sagen vermag.“
„Ich nehme an, es sind Bannsprüche“, sagte Zara.
Jael sah sie verwundert an. „Woher ...“
Zara deutete auf das Hexenpulver auf dem Boden. „Das sind Bannkreise, die derjenige, wer auch immer für all das hier verantwortlich ist, um die Käfige der Bestien gezogen hat, um sie dort zu halten, wo er sie haben wollte. Alles hier, all dieser Hokuspokus, diente allein dazu, die Bestien zu kontrollieren und ihnen den eigenen Willen aufzuzwängen.“ Sie machte eine kleine Pause, ehe sie hinzufügte: „Jemand hat die Bestien zum Töten gezwungen, sie zu dem gemacht, was sie jetzt sind ...“
„Monster“, sagte Jael.
Zara schüttelte den Kopf. „Marionetten.“
Irgendwo in der stinkenden Dunkelheit jenseits der Verschlage erklang ein leises pfeifendes Grollen.
Zaras Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie in die Richtung starrte, aus der das Geräusch kam, doch die Verschlage versperrten ihr die Sicht auf das, was dahinter lag. Zara und Jael lösten sich aus dem Schatten des Käfigs und schlichen zwischen den Verschlagen auf das Geräusch zu, das sich in ein gequältes Keuchen verwandelte.
Als sie die Verschlage umrundeten und weiter in den hinteren Teil des Kellers vordrangen, entdeckten sie die Bestie, die in einer Ecke des Kellers ausgestreckt auf einem Stoß Stroh lag, das sich zunehmend dunkel färbte. Aus mehreren tiefen Wunden floss das Leben aus der Kreatur heraus. Als die Bestie die beiden Frauen auf sich zukommen sah, versuchte sie, vor ihnen wegzukriechen, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Die knochige Brust hob und senkte sich unregelmäßig, und der pfeifende Atem, der aus den Nüstern drang, wurde von blutigem Schaum begleitet. Die Bestie schaffte es kaum noch, Zara und Jael mit dem Blick ihrer großen rotgeäderten Augen zu folgen, als sie langsam näher kamen, so schwach war sie.
Zara blieb neben der Bestie stehen und sah auf sie hinunter.
Dieses Wesen tat niemandem mehr etwas. Es hatte sich schwer verletzt hierher zurückgezogen, in die einzige vertraute Umgebung, die es kannte, um hier zu sterben. Zara fand, dass das ein Wunsch war, den man respektieren musste. Ohne sich um Jaels warnende Worte zu scheren, ging Zara langsam neben der Kreatur in die Knie, die sie mit ihren rotgeäderten Augen fixierte. Als Zara langsam die Hand nach ihrem wuchtigen Schädel ausstreckte, hob die Bestie mit einer ungeheuren Kraftanstrengung ihren Kopf vom Stroh, doch ihre Kiefer schnappten kraftlos ins Leere, und dann sank die Bestie auf ihr Lager zurück und stieß ein lang gezogenes Winseln aus.
Die Bestie lag im Sterben.
Und sie litt Schmerzen.
„Ruhig“, sagte Zara mit sanfter Stimme und streckte erneut die Hand nach dem Kopf der Bestie aus. „Nur ruhig ...“
Diesmal lag die Bestie ganz still, entweder, weil sie zu schwach war, oder weil sie begriffen hatte, dass Zara ihr nichts tun würde. Sie blinzelte, als Zara ihr die flache Hand auf die Schnauze legte und sanft über die ledrige, warme Haut strich. Die Kreatur stieß wieder dieses gequälte Winseln aus und drückte sich dann kraftlos gegen Zaras Hand, wie um ihre Berührung in diesen dunklen Momenten noch intensiver zu spüren. Längst war aller Hass aus den Augen des Wesens verschwunden; alles, was Zara nun darin sah, war Angst und der Wunsch nach Erlösung.
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