Falk war der Erste, der seine Sprache wiederfand. „Verdammt, Zara ...“ Er sah sie durchdringend an, doch sie sah in seinem Blick mehr Neugierde als Furcht. „Was, zum Teufel... bist du?“
„Ich“, sagte Zara düster, „bin der schlimmste Albtraum, den du dir vorstellen kannst.“
„Ohne Frage“, bestätigte Falk trocken. „Aber könntest du meine Frage etwas genauer beantworten?“
„Ich denke, du weißt, was ich bin!“
Falk konnte es nicht fassen. „Aber ... aber ...“
„Es ist die Wahrheit“, erwiderte Zara knapp.
Falks schüttelte den Kopf. „Unfassbar“, raunte er. „Du bist ein ... ein Vampir. Ein Nosferatu. Ein Jaracara. Ein Mulo. Ein Neuntöter. Ein Blutsauger. Ein Kind der Nacht. Ein ...“
„Ich bin Zara“, unterbrach sie ihn. „Nicht mehr, und nicht weniger.“
„Schon, aber ...“ Falk brach ab und rang nach Worten; man konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, als er versuchte, für all das eine plausible Erklärung zu finden. „Vampire“, sagte er fassungslos. „Die meisten Menschen glauben nicht daran, dass es euch wirklich gibt.“
„Und genau deshalb existieren wir noch“, erwiderte Zara.
„Und ... wie viele wie dich gibt es in Ancaria?“
Zara zuckte die Schultern. „Nicht viele“, sagte sie. „Wenn auch genug, um euch weiterhin in euren Albträumen heimzusuchen.“
Falk wiegte den Kopf. „Du findest diese orakelhaften Antworten großartig, oder? Vielleicht gefällst du dir aber auch nur darin, dich selbst als etwas darzustellen, das du eigentlich gar nicht bist.“ Er ließ den Blick von dem toten Mann zu Zaras Füßen über die Leichen im Talkessel schweifen, die der Schnee langsam unter einer weißen Decke bettete. „Ich habe keine Ahnung, was dich dazu gebracht hat, all diese Männer umzubringen, und ich bin auch gar nicht sicher, ob ich es wissen will. Aber egal, ob du nun ein Vampir bist oder nicht: Ich weiß, dass du das hier nicht tun wolltest. Was auch immer dich dazu getrieben hat, dieses Massaker anzurichten, in dem Moment warst du nicht du selbst.“
„Doch, das war ich“, widersprach Zara. „In diesem Moment war ich mehr ich selbst, als ich es jetzt bin.“ Sie schüttelte den Kopf. Der Kloß in ihrer Kehle schien mit jeder Sekunde größer zu werden. Sie starrte zu Boden, und der wirbelnde Schnee umwehte sie, eine finstere Gestalt, der die Verzweiflung wie ein schwerer Mantel um die hängenden Schultern lag.
Falk sah sie noch einen Moment lang an, als wollte er noch etwas darauf erwidern, doch letztlich kam er zu dem Schluss, dass es sinnlos war, mit Zara über Dinge diskutieren zu wollen, von denen sie mehr Ahnung hatte als er. Er deutete auf die Einschusslöcher, die ihre Kleidung perforierten, und auch sonst hatte sie in diesem einen Kampf mehr Blessuren davongetragen als in den zehn Jahren davor zusammen. „Du siehst schlimm aus“, sagte Falk. „Wir müssen dich verbinden und die Kugeln aus dir rausholen, ehe sich die Wunden entzünden.“ Er sah ihr direkt in die Augen, und die Furcht, die ihn vorhin zu lähmen schien, war fort. „Das heißt, natürlich, wenn sich deine Wunden entzünden können.“
Zara schüttelte müde den Kopf; mit einem Mal hatte sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten. „Nein, können sie nicht“, sagte sie leise. „Mein Gewebe ist in dem Sinne nicht vital. Aber ich spüre die verdammten Kugeln bei jeder Bewegung in mir, und das Jucken ist mörderisch, sag ich dir.“ Sie hielt Falks Blick stand, und als sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln verzogen, erwiderte sie es, von Dankbarkeit erfüllt, weil Falk sie als das akzeptierte, was sie war: als Zara und nicht als das Ding, das all diese Leute niedergemetzelt hatte, auch wenn sie in diesem Moment selbst nicht recht zu sagen vermochte, wer sie eigentlich war. Nicht, dass sie das jemals wirklich gewusst hätte seit dem Tag, als sie den Blutkuss empfangen hatte ...
Falk setzte an, etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, ruckte Zaras Kopf herum, als hätte sie etwas gehört.
Falks Augen verengten sich zu Schlitzen. „Was ist los?“
„Männer“, raunte Zara. „Da kommen Männer zu Pferde ...“ Sie schnappte sich ihre beiden Schwerter und steckte sie zurück in die Scheiden auf ihrem Rücken.
Falk runzelte die Stirn und lauschte angestrengt in die Nacht. „Woher weißt du das?“ Er hörte keinen Laut.
„Ich kann sie riechen“, erwiderte Zara. „Sie sind gleich hier ...“
„Verdammter Mist!“ Sein Blick schweifte durch den Felskessel; dort legte der Schnee allmählich ein weißes Leichentuch über die toten Gestalten, das jedoch hier und da immer wieder von roten Flecken durchdrungen wurde. Falk wurde unruhig. „Wie, zum Teufel, sollen wir das hier erklären? Dafür wird man dich hängen ... und mich dazu!“ Er sah Zara fragend an. Hängen kann man dich doch, oder?“ Bevor Zara darauf etwas erwidern konnte, rief er: „Dein Mund, Zara! Das Blut!“
Sie begriff, nahm sich eine Hand voll Schnee und rieb sich damit den Mund, um das Blut ihrer Opfer, das noch daran klebte, zu entfernen.
Das Klappern von Hufen auf Stein erklang, und Zara war gerade mit ihrer Reinigungsaktion fertig, da tauchten nacheinander ein halbes Dutzend Reiter in der Felsschlucht auf, allen voran Bürgermeister von der Wehr. Hinter ihm tauchten Gregor D’Arc und Salieri auf, gefolgt von drei Männern in schlichten Jagdröcken. Als der Bürgermeister Zara und Falk vor sich im Schneegestöber sah, riss er überrascht an den Zügeln und brachte seinen Wallach so überhastig zum Stehen, dass das Pferd wütend schnaubte. „Die Schüsse!“, stieß von der Wehr aufgeregt hervor. „Was waren das für Schüsse? Habt Ihr die Bestie erwischt?“
Dann fiel sein Blick auf das grausige Schachtfeld, und sein Gesicht wurde noch eine Nuance bleicher, als es ohnehin schon war. Mit regloser Miene starrte er von Zara zu dem Massaker im Felskessel und wieder zurück. „Was ...?“ Der Bürgermeister schluckte, die Stimme brüchig vor Entsetzen. Er brauchte mehrere Anläufe, ehe ihm die Frage schließlich über die bebenden Lippen kam. „Was, um alles in der Welt, ist hier passiert?“
„Das ist das Werk des Teufels“, zischte Salieri neben ihm. „Das kann nur das Werk des Teufels sein!“
„Nein“, sagte Falk schnell, „das war die Bestie! Die Bestie hat das getan!“
Bürgermeister von der Wehr sah ihn durchdringend an, um Fassung bemüht. „Und warum sollte die Bestie diese Männer angreifen?“, wollte er wissen. „Die Bestie tötet keine Männer; sie ist nur an Frauen interessiert – wie an der armen Drusilla von Drake, die tot eine halbe Meile von hier in ihrem eigenen Blut liegt.“
„Dann hat sie diesmal offenbar eine Ausnahme gemacht“, entgegnete Falk mit unbewegter Miene. „Vielleicht haben diese Männer die Bestie im Wald aufgespürt und hier in die Enge getrieben, oder sie hat sich sonst wie von ihnen bedroht gefühlt. Als wir hier eintrafen, waren die meisten dieser Männer jedenfalls bereits tot. Zara hat noch versucht, zu retten, was zu retten war, doch die Bestie hat getobt wie von Sinnen und niemanden am Leben gelassen; nur wir sind ihr mit knapper Not entronnen.“
Gregor D’Arc runzelte die Stirn, und der durchdringende Blick seiner eisblauen Augen ruhte auf Zara. „Dann habt Ihr die Bestie gesehen, Madam?“
Zara wurde klar, dass sie nun in der Patsche steckte. Sie warf Falk einen grimmigen Seitenblick zu und nickte dann widerwillig. „Flüchtig“, sagte sie. „Doch alles ging zu schnell, ...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Viel erkennen konnte ich nicht; ich war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben.“
D’Arc sah sie an, und einen Moment lang schien es, als wollte er noch etwas sagen. Dann jedoch ließ er es dabei bewenden – ganz im Gegensatz zu von der Wehr, der von seinem Gaul gestiegen war, zwei Schritte auf Zara zutat, das Gesicht noch immer bleich wie Kreide, und sie durchdringend musterte. „Aber irgendetwas müsst Ihr von der Bestie doch gesehen haben ... Könnt Ihr uns nicht einen Anhaltspunkt geben, wie die Bestie aussieht? Ist sie ... groß?“
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