Zara nickte. „Gewaltig“, sagte sie, und das war nicht einmal gelogen, wie sie aufgrund der Fuß- und Bisswunden wusste. „Mindestens anderthalb Meter groß, eher zwei. Sie hat kurzes, drahtiges Fell, riesige Tatzen und ein Maul voller Reißzähne, lang wie Messer.“ Das war reine Spekulation, doch Zara nahm an, dass diese Beschreibung am ehesten auf das Untier zutraf.
„Und die Augen?“, hakte von der Wehr fasziniert nach. „Was ist mit den Augen?“
„Die Augen der Bestie waren wie Feuer“, sagte Zara, die diesem Spiel allmählich überdrüssig wurde; sie fühlte sich elend und wollte nur weg von hier, weg von diesem Ort des Todes, an dem alles nach Blut und Tod stank. „Lodernd rot wie Flammen.“
Sie begriff ihren Fehler in dem Moment, als Salieri nach vorn drängte und mit triumphierender Stimme verkündete: „Ich hab’s Euch doch gesagt! ,Augen wie Feuer!’ Diese Kreatur ist nicht von dieser Welt!“
Hinter ihm bekreuzigten sich die Lakaien hastig und sahen sich besorgt um, als fürchteten sie, die Bestie oder der Teufel oder beide zusammen könnten jeden Moment aus ihrem Versteck springen und sich auf sie stürzen.
„Das ist Teufelswerk!“, fuhr Salieri mit lauter Stimme fort; er hatte endlich eine Bestätigung für seine These erhalten, und diesen Triumph kostete er voll aus. „Eine Strafe Gottes, um uns arme Sünder auf den rechten Pfad zurückzuführen! Und es gibt bloß eins, was wir tun können, um den Herrn zu besänftigen: Wir müssen Buße tun! Wir müssen Buße tun und Gott zeigen, dass wir noch immer Seine Schäfchen sind!“
„Amen“, flüsterte Bürgermeister von der Wehr tonlos. Sein Gesicht war blass und schimmernd von Schweiß, und er stand so gekrümmt da, als läge die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. „Amen, o Herr ...“
Gregor sagte nichts, doch seine ausdruckslose Miene sprach Bände. Er warf Zara einen Seitenblick zu. „Seid Ihr auch der Ansicht, dass Gott uns diese Bestie geschickt hat, dass sie eine Strafe für unsere Sünden ist?“
„Selbst wenn“, erwiderte Zara, „würde das irgendetwas ändern?“ Sie verzog ächzend das Gesicht, als sie sich zu hastig bewegte und spürte, wie sich die Kugeln in ihren Wunden schmerzhaft verschoben. Falk neben ihr stützte sie, und Zara hoffte, dass niemand etwas bemerkte, doch zumindest Gregor D’Arc war ihre Reaktion nicht entgangen. Seine Miene drückte Besorgnis aus, als er behutsam fragte: „Seid Ihr verletzt, Madam? Hat die Bestie Euch etwa erwischt?“
„Nicht so, dass ich damit prahlen könnte“, log Zara.
„Trotzdem solltet Ihr Euch besser zurückziehen“, sagte D’Arc; sein Blick war noch immer voller Sorge, doch da war noch etwas anderes, ein Ausdruck, den Zara nicht recht zu deuten vermochte. „Ruht Euch aus und lasst Eure Wunden versorgen, damit Ihr möglichst rasch wieder auf der Höhe seid, denn die Bestie streift noch immer durch diese Wälder, und jetzt, da Ihr wisst, womit wir es zu tun haben, benötigen wir Eure Hilfe mehr denn je.“
Zara nickte müde. „Zählt auf mich“, murmelte sie. Falk legte ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie, als die den Felsenkessel verließen. Die Lakaien wichen ängstlich vor ihnen zurück und machten ihnen Platz, als Zara an ihnen vorbeihumpelte. Bei jedem Schritt spürte sie die Bleikugeln in ihrem Fleisch, und obwohl sich der Schmerz in Grenzen hielt, hätte Zara doch gern darauf verzichtet.
Falks Pferd stand am Ausgang der Schlucht, die Zügel an einer Krüppelkiefer festgezurrt, doch bevor sie es erreichten, hörte Zara plötzlich schnelle Schritte im Schnee, und dann tauchte Gregor D’Arc neben ihnen auf. Im ersten Moment glaubte Zara, er habe ihr Lügengespinst, dass die Bestie all diese Männer getötet hätte, durchschaut und wollte sie zur Rede stellen, und instinktiv glitt ihre Hand in Richtung Schwertgriff. Aber als D’Arc vor ihr stehen blieb und sie ansah, war da keine Feindseligkeit in seinem Blick, bloß echte Sorge – Sorge um sie ...
„Bitte verzeiht meine Aufdringlichkeit“, begann D’Arc, und ganz entgegen seines sonstigen staatsmännischen Auftretens wirkte er auf einmal linkisch und unbeholfen, als wisse er nicht recht, wie er sich verhalten sollte. „Hättet Ihr vielleicht die Güte, mich über den Fortgang Eurer Genesung auf dem Laufenden zu halten? Euer Wohl liegt mir wirklich sehr am Herzen, und wenn ich Euch in irgendeiner Form Hilfe zukommen lassen kann, sei es durch Medikamente, Personal oder sonst irgendetwas, so zögert bitte nicht, es mich wissen zu lassen.“
„Nun“, sagte Zara scherzhaft, „ein Schnaps auf den Schrecken wäre wahrhaftig nicht verkehrt.“
Gregor D’Arc stutzte einen Moment, als überlegte er, sich möglicherweise verhört zu haben. Dann teilte dieses gewinnende Lächeln sein Gesicht, das Zara bereits am Vorabend in der Schenke aufgefallen war, und schlagartig war seine Unsicherheit wie fortgeblasen. Er strahlte. „Nichts lieber als das!“, erklärte er hocherfreut. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir bei einem kleinen Umtrunk am Abend in meinem Haus Gesellschaft leisten würdet. Ein paar Gläser Wein, vielleicht einen Happen zu Essen, alles völlig ungezwungen. Und natürlich nur, wenn Ihr Euch danach fühlt.“ Er sah sie erwartungsvoll an, und da war wieder dieser Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht recht zu deuten wusste. War es Neugierde? Interesse? Oder etwas anderes?
Einen Augenblick überlegte sie noch, dann hatte sie sich entschieden und nickte. „Ein Gute-Nacht-Trunk wäre fein.“
„Dann sehen wir uns später“, erklärte D’Arc lächelnd. „Ich werde Euch eine Kutsche schicken.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu seinen Begleitern. Er schaute sich nicht noch einmal nach ihnen um; vielleicht, weil er wusste, dass Zara genau darauf wartete, und er seine Motive, sie einzuladen, nicht zu deutlich zeigen wollte.
Falk sah ihm nach, wie er sich wieder zu seinen Begleitern gesellte. „Wenn diese Treibjagd schon nichts gebracht hat außer einem Dutzend sinnlos dahingeschlachteter Tiere, einem zerfetzten Mädchen und einer Bande toter Strauchdiebe, dann doch zumindest eine Einladung zum abendlichen Tete-a-tete mit dem Herrn Landgrafen.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Immerhin etwas.“
„Das ist kein Tete-a-tete“, protestierte Zara, ein wenig zu rigoros, um glaubhaft zu wirken.
„Na, was denn sonst?“, fragte Falk, während er ihr wieder den Arm um die Schultern legte und sie nebeneinander durch den dichter werdenden Schneefall zu seinem Pferd humpelten. „ Durst kannst du nach diesem Saufgelage ja nun beim besten Willen nicht mehr haben ...“
Klong!
Das Geräusch, mit dem die kirschgroße Bleikugel in die Waschschüssel fiel, klang blechern und im höchsten Maße angenehm. Zara war heilfroh, die Kugeln endlich loszuwerden, die sich fingertief in ihr Fleisch gegraben hatten. Daran, wie sie vom Felskessel zurück in ihr Quartier im Güldenen Tropfen gelangt waren, konnte sie sich nur noch vage erinnern, denn sobald Gregor D’Arc außer Sicht gewesen war und sie zusammen mit Falk auf seinem Pferd saß, war die Erschöpfung über sie hereingebrochen wie eine gewaltige schwarze Welle. Teilweise lag das daran, dass der Kampf gegen die Meuchelmörder Zara mehr mitgenommen hatte, als sie zugeben wollte; größtenteils jedoch war dieser Schwächeanfall psychologischer Natur – ein Schutzmechanismus, damit sie sich nicht mit dem auseinander setzen musste, das sie eben getan hatte. Es war einfacher, sich dem Dunkel des Vergessens hinzugeben, als sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie innerhalb von Minuten mit allem gebrochen und alles in Frage gestellt hatte, wonach sie jahrelang gestrebt hatte, sich damit abzufinden, dass sie noch immer ein Monster war, ein Dämon, ein untoter Blutsauger ohne Gewissen, getrieben vom Durst und der Gier zu töten.
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