Plötzlich lief ein Ruck durch die Kapuzengestalt zwischen den Bäumen, sie wirbelte herum und ergriff die Flucht. Im nächsten Moment war sie im Schutz des Dickichts verschwunden. Doch da war Zara längst mit einem Satz über die Leiche gesprungen und lief über die Lichtung, so schnell sie konnte.
Als der Mann mit der Signalpfeife sie mit wippendem Pferdeschwanz und wallendem Mantel wie einen schwarzen Pfeil über die Lichtung schießen sah, riss er fassungslos die Augen auf, und die Pfeife, auf der er so hartnäckig geblasen hatte, fiel ihm aus dem offenen Mund, weil ihm vor Fassungslosigkeit der Unterkiefer herunterklappte. „Was zum Teufel ...“, raunte er und verfolgte benommen, wie Zara zwischen den Bäumen verschwand. Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, so, als könne er nicht glauben, was er gerade gesehen hatte, und das war auch der Grund, warum er nie jemandem etwas davon erzählte, was er an jenem Abend auf der Lichtung erlebt hatte, aus Angst, sich das Ganze bloß eingebildet zu haben. Wer hätte ihm auch allen Ernstes geglaubt, dass die seltsame fremde Frau mit dem dunklen Haar und den durchdringenden Augen die fünfzig Schritte bis zum Waldrand in weniger als drei Sekunden zurückgelegt hatte? Niemand, der klaren Verstandes war.
Zara lief durch den Wald, ein Schatten innerhalb von Schatten, umweht von ihrem Umhang, der sich hinter ihr bauschte wie die Flügel einer riesigen, grotesken Fledermaus. Obwohl ihr Gesicht so reglos und unbewegt wie immer war, flackerten ihre Augen vor Leben, rote Kohlengruben, angefacht vom Reiz der Jagd, der Zara mit aller Macht befallen hatte, als sie den Unbekannten fliehen sah. Geduckt, den Oberkörper tief nach unten gebeugt, hastete Zara durch das Unterholz, und obwohl sie so schnell lief, verursachte sie kaum einen Laut, als sie der Spur des Flüchtigen folgte. Ihr Blick war starr und unbeirrt nach vorn gerichtet, als wüsste sie genau, wohin sie laufen musste, und ihre Nasenflügel zitterten, als sie die kühle, nach Schnee und Tannen duftende Waldluft tief einsog.
Der Geruch des Unbekannten lag klar und deutlich in der Luft, eine Mischung aus kaltem Schweiß, Rauch und Leinen, angereichert durch den ach so süßen, unvergleichlichen Duft der Angst, den Zara so deutlich wahrnahm, als zöge der Unbekannte eine weithin sichtbare Leuchtspur hinter sich her, die sie so sicher durch das dichte Unterholz führte, als müsste sie einfach bloß einem erleuchteten Pfad in der Dunkelheit folgen. Mit jedem Schritt, den Zara so leichfüßig tat, dass ihre Füße kaum den Boden zu berühren schienen, nahm der Geruch weiter zu.
Zara setzte ihre Schritte schnell und lief unbeirrt durch das Wirrwarr aus Farnen, Büschen und Sträuchern, ohne dass auch nur ein Ast oder Farn über ihren wallenden Umhang strich, fast so, als wich die Fauna vor Zara zurück, um ihr nicht zu nahe zu kommen. Doch tatsächlich war es genau umgekehrt; es war Zara, die sich von allen potentiellen Lärmquellen fern hielt, nur bewegte sie sich dabei so schnell, dass niemand, der Zeuge dieser Szene geworden wäre, seinen Augen getraut hätte, ebenso wie der Mann mit der Signalpfeife.
Lautlos folgte Zara der Spur der Kapuzengestalt in den Wald, weg von der Lichtung. Hier und da konnte sie im Vorbeilaufen die verwischten Fußspuren des Flüchtenden ausmachen, Abdrücke klobiger Männerschuhe, die sie jedoch nicht brauchte, um der Spur des Unbekannten zu folgen; seine Angst allein genügte, um sie anzuziehen wie ein Magnet ein Stück Metall.
Und dann war da noch der Lärm, den der Unbekannte verursachte, während er sich seinen Weg durch das Dickicht bahnte: raschelnde Blätter, knackende Äste, Stoff, der an Bäumen entlangstrich, der gepresste, rasselnde Atem des Fliehenden, der mit jedem Schritt schwerer ging ...
Zara hätte ihm selbst mit verbundenen Augen problemlos folgen können.
Nicht lange, und sie erhaschte weiter vor sich im Unterholz die hastigen Bewegungen der Kapuzengestalt, die unbeholfen durch das Dickicht trampelte und sich immer wieder umschaute. Zara hielt sich in den Schatten und folgte dem Mann auf einer fast parallelen Route durch den Wald, lautlos wie ein Raubtier, das sich seiner Beute nähert. Doch obwohl er sie nicht ausmachen konnte, schien er zu ahnen, dass sie hinter ihm her war, denn seine Angst nahm permanent zu, wurde immer intensiver und durchdringender, ein süßer, schwerer Geruch, betörend wie das Parfüm einer schönen Frau und für Zara nicht minder verführerisch, als es für einen Mann gewesen wäre.
Noch war der Flüchtende dreißig Schritte vor ihr, doch schon Sekunden später waren es nur noch zwanzig Schritte, dann achtzehn, sechzehn ...
Zara spürte, wie das Adrenalin heiß und überbordend durch ihre Andern schoss und ihre Schritte beflügelte, als sie sich dem Flüchtenden von hinten lautlos durchs Dickicht näherte. Sie konnte seinen Mantel deutlich vor sich zwischen den Sträuchern ausmachen, sein in Schatten gehülltes Gesicht, wenn er sich immer wieder suchend umsah, ohne sie im Zwielicht des tiefen Waldes ausmachen zu können, und mit jedem Schritt, den Zara näher kam, wurden die Atemgeräusche des Mannes lauter, ein angestrengtes, halb unterdrücktes Keuchen, unter das sich mehr und mehr ein anderes Geräusch mischte, ein regelmäßiges, dumpfes, irgendwie unwiderstehliches Pochen, das in ihrem Kopf widerhallte wie ein Echo zwischen Berghängen.
Ba-bock, Ba-bock, Ba-bock.
Zara lief weiter, ein Raubtier in Menschengestalt, beherrscht von Trieben, die so ursprünglich und uralt waren wie das Leben selbst, und je näher sie dem Flüchtenden kam, desto stärker wurde das animalische Verlangen, ihre Beute zu stellen und ...
Keine zehn Schritte vor ihr brach die Kapuzengestalt unvermittelt durch eine Wand von besonders dichtem Unterholz und verschwand aus ihrem Blick, doch sein Herzschlag dröhnte so laut in Zaras Kopf, als hätte sie ihr Ohr an seine Brust gelegt, und dann hatte auch sie das Dickicht erreicht und huschte wie ein Geist zwischen den dichtstehenden Büschen und Sträuchern hindurch – um sich unversehens am Beginn einer schmalen Felsschlucht mitten im Forst wiederzufinden. Links und rechts erhoben sich massige Schieferfelsen, schorfig wie die Schuppen eines Drachen, zu beiden Seiten flankiert von einer Wand hoher Tannen, die sich leicht in einer eisigen Brise wiegten.
Die Kapuzengestalt indes war fort; verschwunden, als hätte sich die Erde aufgetan und den Mann verschlungen. Zumindest war der Unbekannte nirgends zu entdecken, als Zara aus dem Schutz des Dickichts auf den verschneiten Pfad trat, der sich – aus dem nördlichen Teil des Forsts kommend – durch diese Tannenschonung schlängelte, um in der Felsschlucht zu verschwinden. Doch auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, nahm sie seinen Geruch noch immer so deutlich wahr wie zuvor, und der betörende Duft der Furcht führte ebenso zum Beginn der Schlucht wie die verwischten Fußspuren im Schnee.
Zara ging neben den Schuhabdrücken her, jetzt ohne Eile. Der Geruch ihrer „Beute“ war nach wie vor stark; der Unbekannte musste hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Gemächlich folgte Zara den Spuren den Pfad entlang zum Beginn der Schlucht, die vor ihr in die Höhe ragte wie ein gewaltiges V aus Fels. Der Pfad, der sich zwischen den Felswänden hindurchwand, war kaum breit genug, dass zwei Pferde nebeneinander hätten reiten können, und hier und da ragten in unterschiedlichen Höhen verkrüppelte Kiefern aus dem Schiefergestein, die mit gebogenem Stamm in die Höhe wuchsen, wie Pflanzen, die sich nach dem Licht recken. Schon nach zwanzig Schritten beschrieb die Schlucht eine Kurve, sodass Zara nicht ausmachen konnte, was dahinter lag. Doch das würde sie bald wissen.
Ohne zu zögern trat Zara in die Schlucht und folgte den Fußspuren. Zu beiden Seiten ragte das Schiefergestein fast senkrecht dreißig Meter in die Höhe. Im Schutz der Schlucht war es vollkommen windstill, und nicht einmal der verführerisch pochende Herzschlag des Unbekannten war mehr zu hören. Doch sein Geruch war nach wie vor sehr intensiv, und das bedeutete, dass er ganz in der Nähe war.
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