Jahn handelte, ohne lange zu überlegen. Er legte mit seiner Armbrust, die er gespannt und einsatzbereit in den Händen gehalten hatte, auf den Wolf an und kniete sich vor die anderen. Sein Finger lag am Abzug und zitterte ein wenig, als er sein Ziel ins Visier nahm.
„Nicht!“, rief Zara.
Doch es war zu spät.
Der Bolzen schoss auf den Wolf zu.
Zara sog scharf die Luft ein. Schneller, als man mit bloßem Auge verfolgen konnte, riss sie eines ihrer Schwerter aus der Scheide, holte aus und schleuderte das Schwert wuchtig von sich – alles, was Falk und die anderen davon mitbekamen, war eine einzige verschwommene Bewegung, dann fiel der Armbrustbolzen keine fünf Schritte vor dem Wolf zu Boden, während sich das Schwert mit einem satten Krachen in den Stamm einer alten, verkrüppelten Trauerweide bohrte.
Jahn blinzelte ungläubig. „Bei allen Göttern“, murmelte er und starrte Zara benommen an. „Wie – wie habt Ihr das gemacht?“
Zara antwortete nicht.
Einen Moment lang rührte sich niemand, als wäre die Welt erstarrt. Dann lief ein Ruck durch den Wolf, das gewaltige Tier drehte sich um und lief humpelnd auf den Waldrand zu, so schnell es sein verletzter Lauf zuließ. Ehe es jedoch im Unterholz verschwand, wandte es den Kopf noch einmal Zara zu, und einen magischen Moment lang sahen sie sich in die Augen, der Wolf und die Kriegerin, verwandte Seelen.
Dann klackte es – die Sehne war in den Spanner der Armbrust einrastete –, und der Wolf machte einen Satz nach vorn und war im Dickicht verschwunden. Jahn fluchte, riss die Armbrust hoch und wollte ihm folgen, doch Zara lief ihm in den Weg und hielt ihn zurück: „Lass ihn!“
Jahn funkelte sie an. „Warum?“
„Weil das nicht die Bestie ist“, sagte Zara ruhig, „sondern nur ein Wolf.“
„Auch Wölfe stellen eine Gefahr für uns dar!“, hielt Jahn dagegen.
„Und wenn schon!“, brummte Zara, nicht bereit, sich auf Diskussionen einzulassen. Sie sah hinüber zu der Stelle, wo der Wolf im Dickicht verschwunden war, und ein kaum merkliches Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel, bevor sie sich wieder den anderen zuwandte. Um das Thema zu wechseln, nickte sie in Richtung der verbrannten Ruine. „Was ist das hier für ein Ort?“
Langsam beruhigte sich Jahn wieder. Er ließ die Armbrust sinken, während Zara zu der Weide ging, um mit einem Ruck ihr Schwert aus dem Stamm zu ziehen. „Das hier“, erklärte er mit respektvoll gesenkter Stimme, „war einst das Anwesen eines Gelehrten, aber ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern ...“
„Humbug“, sagte Wanja.
„Nein“, widersprach Jahn. „Hier hat wirklich ein Gelehrter gelebt ...“
„Ja, und sein Name war Humbug “, sagte sie. „Swend von Humbug. Er war ein berühmter Historiker, wenn wohl auch recht umstritten. Sein Hauptwerk ist die so genannte Chronik von Ancaria, ein mehrbändiges Werk über die Historie von Ancaria, vom Anbeginn der Zeit bis heute. Mein Vater kannte ihn recht gut; wir haben eine ganze Reihe seiner Bücher zu Hause. Er hat sich auf seine ganz eigene Weise mit der Geschichte von Ancaria befasst, und einige seiner Thesen über die Entstehung von Ancaria sind wohl recht gewagt, wenn ich meinen Vater richtig verstanden habe. Deshalb hatte von Humbug in Historikerkreisen wohl auch nicht allzu viele Freunde; die meisten haben ihn nicht für voll genommen. Anfangs machte ihm das wohl nicht viel aus, doch irgendwann wurden der Druck und die Missachtung, denen seine Frau und seine Kinder ausgesetzt waren, so groß, dass er beschloss, aus Hohenmut wegzugehen, wo sie bis dahin gelebt hatten. So kamen sie hierher, nach Moorbruch. Sie bauten sich dieses Haus und hofften, hier, fern von dem Spott der Menschen, ein neues Leben beginnen zu können.“
Zara steckte ihr Schwert in die Scheide zurück. „Was ist dann passiert?“
Jahn wiegte den Kopf. „Niemand weiß es mit Bestimmtheit. Als ich noch ein Junge war, sahen die Bewohner von Moorbruch eines Nachts Feuerschein über dem Wald, und als sie herkamen, stand das Anwesen vom Keller bis zum Dach lichterloh in Flammen. Da es unmöglich war, das Feuer zu löschen, ließen sie das Haus niederbrennen und suchten anschließend in den Trümmern nach den Leichen der Bewohner, doch sie fanden keine einzige; die Hitze war wohl so groß, dass selbst die Knochen verbrannt sind. Jedenfalls fand man weder von Swend von Humbug noch von seiner Familie je eine Spur, doch manchmal, in hellen Vollmondnächten, soll man sie angeblich noch immer hier sehen, wie die Kinder auf der Schaukel sitzen und Swend und seine Frau daneben beim Picknick, friedlich beisammen, als wüssten sie gar nicht, dass sie tot sind.“
„Nette Geschichte.“ Falk ließ seinen Blick unbehaglich über die verbrannte Ruine schweifen. „Die ideale Gute-Nacht-Geschichte für kleine Kinder ...“
Jahn zuckte gleichmütig mit den Schultern. „So erzählt man sich’s wenigstens.“ Er suchte Zaras Blick. „Was hat Euch überhaupt hier hergeführt?“, fragte er. „Die Bestie?“
Bevor sie antworten konnte, schnitt plötzlich das grelle Schrillen einer Signalpfeife durch den Wald. Das Pfeifen kam von irgendwo weiter südlich, aus Richtung von Moorbruch, irgendwo aus dem Dickicht des Forsts.
Jahn riss entsetzt die Augen auf. „Das Alarmsignal!“, zischte er.
„Die Bestie!“, raunte Ela ängstlich. „Die Bestie hat wieder zugeschlagen!“
„Verdammt!“ Falks Kopf ruckte zu Zara herum. „Und was machen wir ...“
Er brach ab, als er merkte, dass Zara überhaupt nicht mehr neben ihm stand. In dem Moment, als das Pfeifen an ihr Ohr drang, war Zara bereits losgejagt, in die Richtung, aus der das Signal durch die Abenddämmerung scholl.
Obwohl sie genau wie alle anderen die Hoffnung hegte, dass der Alarm womöglich gar nichts mit der Bestie zu tun hatte, sagte ihr der Instinkt, dass auf dem Friedhof von Moorbruch bald ein neues Grab in die hartgefrorene schwarze Erde getrieben werden musste ...
Zara verließ den Schutz des Waldes und gelangte auf eine kleine Lichtung, von der das Schrillen der Signalpfeife hallte. Die junge Frau lag im Zentrum der Lichtung, auf dem Rücken, fast so, als würde sie schlafen, das Haar um den Kopf herum ausgebreitet, die Augen leer und blicklos empor zum wolkenverhangenen Himmel starrend. Das einstmals noble Jagdkostüm war nur noch ein blutiger Fetzen.
Zara ging in gebührendem Abstand um die Leiche herum, sorgsam darauf bedacht, nicht in das langsam gefrierende Blut zu treten. Das Einzige an Drusilla von Drake, das unversehrt zu sein schien, war ihr Gesicht, weiß und schön wie feines Porzellan, makellos und ohne einen einzigen Blutspritzer darauf.
Zara betrachtete die sterblichen Überreste zu ihren Füßen mit müdem Blick und seufzte resigniert, ohne auf den Jäger mit der Signalpfeife zu achten, der ein paar Schritte weiter stand und mit vor Schreck kreidebleichem Gesicht in seine Pfeife blies. Irgendwo im Unterholz am Rande der Lichtung wurden Hufgetrappel und wild durcheinander rufende Stimmen laut, doch Zara hatte nur Augen für die schöne Tote. Der Blutgeruch, der von der Toten ausging, war schwer und betäubend, wie Unmengen verschütteten Weins, doch als Zara die kupferschwangere Luft tief in ihre Lungen sog, war da noch etwas anderes, ein schwächerer, bitterer Geruch, der vom betäubenden Duft des Blutes fast verdeckt wurde, wie der fauligsüße Gestank von verfaulten Friedhofsblumen.
Zaras Stirn legte sich in grüblerische Falten, und sie ging neben Drusilla in die Knie. Aus unmittelbarer Nähe war der Blutgeruch noch betäubender, doch auch der Friedhofsblumengestank nahm zu, und als Zara sich mit leicht aufgeblähten Nüstern, wie ein Raubtier, das die Witterung seiner Beute aufnimmt, über die Tote beugte, nahm sie zudem noch den gleichen „sauberen“, unbefleckten Geruch wahr, den sie auch bei der toten Frau im Weiher gerochen hatte. Mit anderen Worten: Egal, wie verdorben und männermordend sich Drusilla auch gegeben haben mochte, hätte Jahn sich wirklich für jeden, der angeblich bereits das Vergnügen mit ihr hatte, einen Goldtaler geben lassen, so wäre er jetzt keinen Heller reicher. Wie es schien, hatte Drusilla von Drake zu jenen Frauen gehört, die sich einen Spaß daraus machten, die Männer durch ihr kokettes Auftreten um den Finger zu wickeln, jedoch hastig den Rückzug antraten, wenn es ernst wurde. Zara vermochte nicht zu sagen, was dieses Verhalten Drusilla eingebracht hatte – mal abgesehen vielleicht davon, in aller Öffentlichkeit als loses Flittchen dazustehen –, sie nahm jedoch an, dass Drusilla die begehrlichen Blicke der Männer gebraucht hatte, um ihr schwaches Selbstwertgefühl zu steigern.
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