Dann riss sie sich aus ihren Gedanken und setzte sich mit einem unmerklichen Kopfschütteln in Bewegung. Die überhebliche Arroganz und unverfrorene Dreistigkeit, mit der D’Arc sie für seine Zwecke einspannte, ärgerte sie. Aber wirklich wütend war sie auf sich selbst, weil sie sich von seiner charmanten Art derart um den Finger wickeln ließ. Sie wollte auf den Landgrafen wütend sein, konnte es aber nicht, und Zara ertappte sich einmal mehr bei dem Gedanken, dass D’Arc ihr gefiel. Sie waren wie Gegensätze, die einander anzogen.
Zara versuchte, ihre widerstreitenden Gefühle im Zaum zu halten, während sie über den Platz ging. Vereinzelt hielten sich noch Einwohner hier auf oder musterten sie aus den Fenstern der Häuser, doch Zara achtete nicht darauf. Ihr Blick war ganz nach innen gerichtet, während sie sich auf all ihre Sinne konzentrierte und begann, sie zu sensibilisieren und zu regulieren wie Einstellungen an einer Waage, die man für feinste Gewichtsunterschiede einstellt.
Schließlich ließ sich der kalte Wind, der über ihr Gesicht strich, beinahe greifen, und Zara nahm die Gerüche, Farben und Geräusche rings um sich herum stärker wahr als sonst. Alles wirkte viel intensiver, viel lebendiger, sie hörte die leisesten Geräusche, und als sie durch den knöchelhohen Schnee auf den Waldrand zustapfte, hatte sie immer noch den Geruch von Drusilla von Drakes viel zu süßem Parfüm in der Nase, das sich vor ihrem inneren Auge, einem weithin sichtbaren leuchtend roten Band gleich, nach Norden zog: Orangenblütenwasser, Jasmin und Vanille mit einem Hauch Nelke.
Wenn die Bestie kein Gespenst war, sondern eine Kreatur aus Fleisch und Blut, musste sie irgendwo in den Wäldern Spuren hinterlassen haben, und wenn es Zara gelang, eine dieser Spuren zu finden, konnte sie ihr mit etwas Glück folgen. Sie musste nur darauf achten, dass sie bei all den Eindrücken, die auf sie einstürmten, nicht das Wesentliche übersah.
Mit entschlossenen Schritten legte Zara die letzten paar Meter zum Waldrand zurück und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.
Die Jagd hatte begonnen.
Der Moorbrucher Forst war beinahe so dunkel wie der Finsterwald, durch den sie hierher gelangt waren, eine unzählige Quadratkilometer große Fläche aus Tannen und Fichten und Laubbäumen und Felsen und Lichtungen und Pfaden aus festgestampfter Erde, durchzogen von einem Gewirr von Bachläufen, die in die weiten graubraunen Torfmoore mündeten; die erstreckten sich immer wieder zwischen den uralten Baumriesen und konnten für unachtsame Wanderer schnell zu einer bösen Überraschung werden. Aus der Vogelperspektive musste der Forst wie ein gewaltiger Flickenteppich aus grünen und braunen Flächen wirken, der sich in jeder Himmelsrichtung bis zum Horizont und noch darüber hinaus erstreckte. Selbst das lang gezogene Tal, in dem Moorbuch errichtet worden war, ging in dieser Übermacht unbändiger grüner Natur einfach unter, wie ein Kiesel auf dem Grund eines Meers. In diesem Teil der Welt hatte sich die Natur die Vorherrschaft bewahrt, und die kläglichen Versuche der Menschen, dem Forst hier und da etwas abzutrotzen, wirkten vergleichen mit der unendlichen Weite dieser Wälder allenfalls lächerlich und unbedeutend.
In diesem Wirrwarr aus Schluchten, Tälern, Bäumen, Felsen und Sümpfen hätte sich eine ganze Armee verstecken können, ohne dass man sie gefunden hätte, selbst wenn zwei andere Armeen nach ihr suchten. In dieser Umgebung eine Kreatur von der ungefähren Größe eines Wolfs aufzuspüren, wurde dadurch zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Bestie in diesen Wäldern bestens auskannte; sie versuchten also, ihren Gegner auf eigenem Territorium zu schlagen, und daran waren schon ganz andere gescheitert. Mit anderen Worten: Das Ungeheuer war in jeder Hinsicht im Vorteil.
Nun, dachte Zara, während sie abseits der festen Pfade lautlos durch den dunklen Wald schlich, vielleicht nicht in jeder...
Seit sie Moorbruch vor zwei Stunden hinter sich gelassen hatte, hatte sie keine Menschenseele zu Gesicht bekommen, doch der Lärm der Jagdgesellschaft war allgegenwärtig, ein konstantes Rufen und Bellen und Stimmengemurmel in der Ferne, hin und wieder punktiert vom Knallen einer Muskete. Obwohl Zara sich alle Mühe gab, sich von der Jagdgesellschaft fernzuhalten, die sich schwerfällig und lautstark wie eine Horde Wildschweine durch den Forst schob, bekam sie doch mehr von dem mit, was geschah, als ihr lieb sein konnte. Vor einer Weile hatte sie von einem Hügel aus mehr zufällig einen Blick auf die Menschen erhascht. Die Jagdgesellschaft folgte dem klassischen Muster: Während die Treiber mit ihren Rasseln und Klappern zusammen mit den Hundeführern die Vorhut bildeten und in einer geschlossenen Linie durch das Unterholz walzten als eine geschlossene Wand aus Leibern, um alles aufzuscheuchen, was sich vor ihnen im Dickicht verstecken mochte, hielt sich das Fußvolk mit seinen Speeren und Heugabeln und Mistforken zwanzig Schritte hinter ihnen; einige versuchten, das Halbdunkel des Waldes mit Fackeln zu vertreiben. Wiederum zwanzig Schritte dahinter kamen die Jäger zu Pferde, und dahinter, quasi als Nachhut, der Tross der Adeligen, die plaudernd und scherzend auf ihren Gäulen saßen, begleitet von Dienern und Leibeigenen, die ihnen ihre Waffen trugen. Ganz zum Schluss kamen die Pritschenwagen mit der Verpflegung und der Kadaverkarren, auf dem die Jagdbeute transportiert werden sollte. Es war kein Wunder, dass es den Moorbruchern bislang nicht gelungen war, die Bestie zur Strecke zu bringen; sie gingen so ungeschickt und tölpelhaft vor, dass es selbst einem Olifanten ohne größere Mühe gelungen wäre, durch ihre Maschen zu schlüpfen.
Gleichwohl, die Treibjagd erfüllte ihren Zweck; die Tiere des Waldes waren in hellem Aufruhr. Aufgescheucht vom Geräusch der Klappern und dem Bellen der Bluthunde, die wie verrückt an ihren Leinen zerrten, nahmen die Tiere Reißaus. Überall im Dickicht raschelte es; die Blätter von Büschen und Sträuchern wogten und bebten. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus schien es Zara, als würde der ganze Forst leben. Eichhörnchen huschten erschrocken die Baumstämme hinauf, Gänse und Perlhühner stoben schnatternd und kreischend aus dem Gestrüpp in einer nebligen Senke auf, zwei junge Rehe flogen in wildem Zickzack tiefer in den Wald ... Doch egal, wie viele Tiere die Häscher aufscheuchten, die Bestie war nicht darunter.
Nachdem Zara das Treiben der Jäger eine Minute lang verfolgt hatte, wandte sie sich kopfschüttelnd ab und rutschte auf der anderen Seite den Hügel hinunter, um ihre Suche nach Spuren der Bestie weiter südlich fortzusetzen, tiefer im Wald. Doch obwohl Zara eine versierte Fährtensucherin war und Augen und Ohren offen hielt, fand sie nicht eine Spur der Bestie; keine Fußabdrücke, keinen Kot, keine Haare – nichts, was man bei einem so großen Wesen eigentlich zu finden erwarten konnte.
Je weiter der Vormittag fortschritt, desto größer wurde Zaras Frust.
Sie arbeitete sich zu Fuß bis zum Rand eines großen Sumpfgebiets vor, wo eine windschiefe Holzhütte mit löchrigem Schindeldach und halb vermoderte Holzgerüste davon kündeten, dass in dieser Gegend Torf gestochen wurde, und als sie bei der Hütte einen Moment lang eine kurze Verschnaufpause einlegte, glaubte sie, aus dem Augenwinkel eine vage Bewegung in den Büschen zu ihrer Rechten wahrzunehmen, so, als würde sich etwas Großes, Massiges durch das Unterholz schieben. Doch als sie nachsah, entdeckte sie im Unterholz lediglich einen großen Eber mit borstigem Fell, der mit seinen verdreckten, leicht gebogenen Hauern im Laub nach Eicheln suchte.
Sie überließ den Eber seinen Eicheln und ging einmal um den gesamten Sumpf herum, doch vergebens: Die Bestie schien in diesem Teil des Waldes keine Spuren hinterlassen zu haben, und falls doch, dann waren sie der harschen Witterung zum Opfer gefallen. Zara zwang sich, nicht allzu niedergeschlagen zu sein, und ging auf einem anderen Weg in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Dabei fiel ihr irgendwann auf, wie ungewöhnlich ruhig es war. Nachdem sie den ganzen Vormittag über im Hintergrund konstant das Klappern und Rasseln der Treiber und das Bellen der Hunde vernommen hatte, war es jetzt still. Alles, was an ihr Ohr drang, war das leise Wispern des Windes in den Bäumen und das Murmeln eines kleinen Bachlaufs, der sich in der Nähe durch das Unterholz wand. Selbst die Tiere des Waldes waren verstummt.
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