Schließlich, wer vermochte schon zu sagen, was morgen war?
Zara hatte in ihrem Leben schon so mancher Treibjagd beigewohnt, doch der Anblick, der sich ihr bot, als Falk und sie bei den ersten grauen Strahlen des neuen Tages aus der Schenke traten, entlockte selbst einer erfahrenen Kriegerin wie ihr einen erstaunten Ausruf.
Auf dem Platz vor dem Güldenen Tropfen wimmelte es nur so vor Menschen, fast wie bei einem Volksfest. Da waren Bauern, Knechte und Torfstecher in schlichter Kleidung, mit Bögen und Mistgabeln; Jäger zu Pferd, Musketen in den schlauchartigen Seitentaschen ihrer Pferde; Spurensucher mit allen möglichen Arten von Hunden, großen wie kleinen, die aufgeregt an ihren Leinen zerrten, einige mit Maulkorb, andere ohne, doch alle begierig darauf, loszuhetzen und ihre Beute zur Strecke zu bringen; Knaben und Jugendliche als Treiber mit Schellen und Blechbechern, in denen Steine klapperten, um die Beute aufzuscheuchen; und dann waren da noch die Wohlhabenden und Adeligen, die zwar nur einen geringen Anteil an der bunt zusammengewürfelten Jagdgesellschaft bildeten, die Szene aber nichtsdestotrotz dominierten, ähnlich wie ein Rotweinfleck auf einer weißen Tischdecke – Männer und Frauen in edlen Jagdgewändern aus teuren Stoffen, mit verästelten goldenen Stickereien am Revers und an den Taschen, Hüte und Mützen mit schimmernden Pfauenfedern auf dem Kopf, die Hände in feinen ledernen Handschuhen, die Pferde geführt von Lakaien und Leibeigenen, die all die Arbeit verrichteten, für die sich diese Damen und Herren zu fein waren. Überhaupt wirkten die Herrschaften weniger, als wären sie hier, um eine Bestie zur Strecke zu bringen, die ein Dutzend Menschenleben auf dem Gewissen hatte, sondern eher, als sei dies einer ihrer dekadenten Jagdausflüge, bei denen man wahllos in der Gegend rumballerte und Tiere abschoss, weil man sonst nichts zu tun hatte, als sei dies hier ein bloßer Zeitvertreib, bevor man die nächste Tasse Tee trank und beim Kaminfeuer gepflegte Konversation trieb.
Einen krassen Gegensatz zu diesen Herrschaften bildeten die armen Schlucker, die zu Dutzenden aus den weiter entfernten Nachbardörfern Torffingen und Sumpfhain nach Moorbruch gekommen waren, in der Hoffnung, diesen Tag womöglich als reiche Männer zu beschließen, wenn es ihnen gelang, die Bestie zur Strecke zu bringen und die Belohnung einzuheimsen, die auf den Kopf des blutrünstigen Untiers ausgelobt war.
Als Zara den Blick über die Hundertschaften von Menschen schweifen ließ, sah sie drüben bei einer der Kutschen voller Waffen, Fallen und Ködern Bürgermeister von der Wehr, der sich mit entschlossener Miene mit Gregor D’Arc unterhielt; das Stimmengewirr auf dem Platz war zu laut, als dass Zara imstande gewesen wäre, zu verstehen, worum es ging. Während von der Wehr unbeirrt weitersprach, glitt D’Arcs Blick suchend über die Menge und kam schließlich über den halben Platz hinweg auf Zara zu liegen, die das freundliche Begrüßungsnicken des Adeligen knapp erwiderte, bevor sie sich Falk neben ihr zuwandte – vielleicht eine Spur abrupter, als nötig gewesen wäre.
„Das reinste Volksfest“, brummte sie. „Kinder, Bauern und arrogantes Pack, das sich einen Spaß aus alldem macht; zu wenig Männer, die wissen, was sie tun.“ Sie betrachtete einen Jungen von vielleicht zehn Jahren, eingehüllt in einem zerlumpten Mantel, eine klobige Fellmütze auf dem Kopf, der sich ängstlich umsah, in den Händen eine Dose mit Kieseln, die bei jeder Bewegung gegen das Blech klapperten. „Kein Wunder, dass die Bestie bislang jedes Mal entkommen ist, ohne dass man ihrer habhaft wurde.“
„Jetzt sind wir ja da“, entgegnete Falk. Er ließ den Blick über den überfüllten Platz schweifen. „Wenigstens sind es viele.“
„Gerade das macht mir Sorgen“, murmelte Zara. „Zu viele Menschen; zu viele unterschiedliche Spuren; zu viele Leute, die sich gegenseitig in die Quere kommen; und zu viele unbedarfte Opfer für die Bestie ...“ Sie sah hinüber zu einer Gruppe junger Frauen in edlen Gewändern, die in Damensätteln mit auf einer Seite herabhängenden Beinen auf ihren Pferden saßen und sich angeregt über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Provinz unterhielten; keine von ihnen sah aus, als wäre sie älter als zwanzig. Und was Zara noch mehr beunruhigte: Offenbar hatte keine von ihnen Angst, obwohl sie allen Grund dazu hatten. Besonders eine der jungen Frauen fiel Zara ins Auge, eine große Dunkelhaarige mit aristokratischer Nase, schmalem Gesicht, dunklen Augen und wallendem braunem Haar, die mit ihrer vornehmen Überheblichkeit sogar noch ihre Freundinnen überstrahlte. Die klebten an ihren Lippen, um nur ja kein Wort zu verpassen, das das Fräulein äußerte.
Falk folgte Zaras Blick und runzelte besorgt die Stirn. „Du meinst, das Biest wird heute wieder zuschlagen?“
Zara trug wieder ihre beiden Schwerter, doch diesmal nicht links und rechts an der Hüfte, sondern überkreuz auf ihrem Rücken, was ihr mehr Bewegungsfreiheit gab. Zu beiden Seiten ihres Kopfes erhoben sich die Griffe der Waffen, sodass sie nur über die Schultern zu greifen brauchte, um die Schwerter aus den Lederscheiden auf ihrem Rücken zu ziehen. Die Waffengurte bildeten ein X auf ihrer Brust.
Zara wiegte auf Falks Frage hin den Kopf. „Nach allem, was wir wissen, werden die Abstände, in denen die Bestie zuschlägt, zunehmend kürzer, und wenn das Monstrum so klug und gerissen ist, wie es den Anschein hat, dann wird es nicht einfach zusehen, wie wir direkt vor seiner Nase ein Festbankett errichten; es wird sich seinen Happen holen.“
„Aber wen ...“ Falk verstummte, als Jahn neben ihnen auftauchte, links im Arm Wanja, rechts ein Mädchen, das etwa im gleichen Alter war, vielleicht ein, zwei Winter jünger. Ihr Haar war vom gleichen Weizenblond wie das von Wanja, doch ihre Gesichtszüge waren ein wenig herber als die des älteren Mädchens, auch wenn ihnen ein schlichter Liebreiz innewohnte, eine Schönheit, die sich dem Betrachter für gewöhnlich erst auf den zweiten Blick offenbarte. Doch Falk schien in dem jungen Mädchen in dem schlichten grauen Wollkleid und den klobigen Stiefeln vom ersten Moment an etwas zu sehen, das so tief verborgen lag, dass es sonst niemand bemerkte. Und das, was er da sah, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, das sich von den Augen aus über seine gesamte Miene ausbreitete. Er konnte kaum den Blick von ihr abwenden, und dem Mädchen schien es nicht viel anders zu ergehen; auch wenn eine zarte Röte über ihre Wangen kroch, wich sie Falks intensivem Blick nicht aus. Ein scheues Lächeln glitt über ihre vollen roten Lippen. Erst als Jahn sich dezent räusperte, schreckten die beiden auf, als würden sie aus einem tiefen Traum erwachen. Plötzlich sah das Mädchen beschämt zur Seite, als hätte man sie bei etwas schrecklich Unschicklichem ertappt, doch Jahn grinste und machte sie miteinander bekannt.
„Das“, sagte er und schob das junge Mädchen einen Schritt vor, das scheu die Hände im Schoß rang, „ist Ela – meine Schwester.“
Falk blinzelte ungläubig. „Deine Schwester ?“ Jahn nickte und stellte dem Mädchen, deren kleine Schwester Myra von der Bestie ermordet worden war, Falk und Zara vor. Obwohl Jahn Zaras Heldentaten auf der Reise hierher in so anschaulicher Weise zum Besten gab, dass es Zara zunehmend unangenehm wurde, hatte Ela nur Augen für Falk, der ihren Blick voller Wärme erwiderte. Es war, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen, hätten sich jedoch irgendwann aus den Augen verloren und jetzt zum ersten Mal seit langer Zeit wiedergetroffen. Irgendwann war Jahn mit seiner Lobhudelei auf Zara am Ende, doch die zwei Turteltauben bekamen davon nichts mit und sahen sich nur weiterhin in die Augen, bis schließlich Bürgermeister von der Wehr auf einen der Pritschenwagen stieg und seinen Stock hob. „Ruhe!“, rief er. „Darf ich um Ruhe bitten! Bitte, Ruhe!“ Nach und nach verebbten die Gespräche, und alle Augenpaare richteten sich auf den Bürgermeister, der oben auf der Pritsche der Kutsche stand und sich in seinem lindgrünen Jagdkostüm alle Mühe gab, herrschaftlich zu wirken. Vor dem Wagen standen Gregor D’Arc und Pater Salieri, der finster dreinschaute. Er strahlte eine düstere Autorität aus, die nur noch von der des Landgrafen übertroffen wurde.
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