Anna starrte Zara mit großen Augen an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte sie es sich anders und schloss den Mund, um stattdessen mit furchtsamer Miene den Blick durch den Raum schweifen zu lassen, wo die zechenden Männer und Frauen allmählich in einen regelrechten Rausch gerieten. Der Bürgermeister versuchte zwar geradezu verzweifelt, gegen den Tumult anzurufen und die Leute zur Vernunft zu bringen, doch niemand achtete mehr auf ihn, als wäre er gar nicht da, und auch Salieri machte keine Anstalten, die aufgehetzte Meute zu beruhigen, die voller Inbrunst darüber diskutierte, ob ein Blutopfer die Bestie tatsächlich zur Räson bringen könnte oder nicht; während sich die eine Hälfte der Gäste dafür aussprach, war sich die andere Hälfte – nämlich diejenigen, die bislang noch keinen Angehörigen durch die Bestie verloren hatten – da nicht so sicher, doch von der Hand weisen wollte die Möglichkeit niemand, und so peitschte sich die Stimmung immer mehr auf, bis Zara, Falk und die anderen am Ecktisch Mühe hatten, bei all dem Tumult ihre eigenen Gedanken zu verstehen.
Zara kam eine andere Winternacht in einem anderen Jahr in den Sinn, nicht weit von hier, und Bilder von wild schreienden Gesichtern und mit Fackeln herumfuchtelnden Männern zuckten flüchtig durch ihre Erinnerung. Verbrennt das Monster!, gellte eine Stimme in ihrem Verstand – eine Stimme, die schon vor sehr, sehr langer Zeit verstummt war, zum Schweigen gebracht von ihrer Hand. Fackelt das Monster ab!
Zara stöhnte und verbannte die Stimme aus ihren Gedanken, sperrte sie in den dunklen Kerker ihres Unterbewusstseins und stürzte hastig noch einen Schnaps hinunter, während sich Bürgermeister von der Wehr immer noch bemühte, die Leute zu beruhigen. Doch seine Stimme verhallte ungehört und unbeachtet, und Zara erkannte, dass er keineswegs die Respektsperson war, die er gern gewesen wäre. Niemand hier hatte sonderlich große Achtung vor ihm; er bekleidete vielleicht ein öffentliches Amt, doch vermutlich hatte er den Posten – wie in vielen Gegenden von Ancaria üblich – von seinem Vater geerbt, ohne dass die Einwohner von Moorbruch irgendein Mitspracherecht darüber gehabt hatten. Dass er offensichtlich wohlhabender war als viele andere, die kaum wussten, wie sie über den Winter kommen sollten, und bis jetzt noch keine Tochter durch die Bestie verloren hatte, trug nicht eben dazu bei, sein Ansehen bei den einfachen Leuten zu steigern. Die spalteten sich nun zunehmend in zwei Lager, die nicht mehr gegeneinander anredeten, sondern brüllten, und spätestens, als einer der Männer einem anderen ohne Vorwarnung den Inhalt seines Bierkrugs ins Gesicht schüttete, wusste Zara, dass die Lunte fast abgebrannt war.
Nur noch wenige Augenblicke, und das Sprengfass würde explodieren ...
Zara wandte sich an Jahn. „Wir sollten von hier verschwinden“, sagte sie laut, um den Tumult zu übertönen. „Bring die Mädchen hier raus. Hier wird es gleich recht ungemütlich.“
Jahn nickte und griff nach Wanjas Arm. Hinter ihm begann der Mann, dem das Bier von den nassen Haaren tropfte, wütend zu schreien, und er schmetterte dem anderen seinen Krug gegen den Kopf. Es krachte hohl, Tonscherben und Bier regneten herab. Der getroffene Mann schrie auf, taumelte benommen zur Seite und krachte mit blutiger Stirn gegen die Theke, der Blick wild und irre.
Er wollte sich gerade mit einem wütenden Keuchen auf den Angreifer stürzen, als plötzlich die Tür der Schenke wuchtig nach innen aufschwang und eine große, stattliche Gestalt in einem edlen Anzug und einem weiten dunklen Umhang über die Schwelle trat. Der Schatten fiel in den Schankraum, lang und dunkel, und obgleich der Mann keinen Ton von sich gab, sondern einfach nur im Türrahmen stand, geschah etwas über alle Maßen Seltsames.
Beinahe synchron ruckten alle Köpfe zur Tür, und ebenso schlagartig wurde die aufgebrachte Menge leiser. Aus wildem Gebrüll wurde ein respektvolles Murmeln und Raunen, und selbst die beiden Streithähne an der Theke vergaßen einander.
Der Mann unter dem Türsims strahlte eine Präsenz und eine Stärke aus, die auch Zara in ihrem Leben noch nicht bei vielen Menschen verspürt hatte. Allein seine Gestalt war schon imposant: Der Mann füllte den Türrahmen fast bis zur Gänze, und zwar in der Höhe und der Breite. Er maß mindestens zwei Meter vom Scheitel bis zur Sohle, die Schultern breit wie ein Schrank, die Hände groß wie Schaufeln. Das Gesicht unter dem breitkrempigen Hut mit der Pfauenfeder war markant und männlich, mit einem leicht hervorspringenden Kinn, intelligenten braunen Augen und einem gepflegten, kurz geschnittenen Vollbart.
Bürgermeister von der Wehr witterte unvermittelt Morgenluft und ging mit einem erleichterten Lächeln auf den Neuankömmling zu, um ihm demonstrativ die Hand auf den Arm zu legen. „Ah, Landgraf Gregor D’Arc!“, begrüßte er den Hünen ehrfürchtig. „Gut, Euch zu sehen, Graf! Tretet ein und sagt den guten Leuten hier, dass es in Zeiten wie diesen nicht ratsam ist, sich zu streiten, statt Seit’ an Seit’ gegen den gemeinsamen Feind zu stehen! Sagt ihnen, dass es nicht die Lösung sein kann, freiwillig das zu geben, was die Bestie sich sonst mit Gewalt holt.“ Seine Worte waren nichts anderes als ein Hilferuf; die Bitte, dass Gregor D’Arc, dieser Ehrfurcht gebietende Mann, ihn dabei unterstützte, die Meute zu bändigen, wozu er allein nicht imstande war. Er sah Gregor fast flehentlich an, eine Hand auf seinem Arm, und genau so, wie der Bürgermeister Gregor fast flehentlich ansah und auf seine Reaktion wartete, ruhten auch die Augen aller anderen im Schankraum auf dem Landgrafen.
Einen endlosen Moment lang stand der Edelmann einfach nur da. Dann sagte er mit ruhiger, volltönender Stimme: „Eine Treibjagd. Wir werden morgen eine Treibjagd abhalten, um die Bestie zur Stecke zu bringen.“
„Aber das haben wir schon zwei Mal getan!“, warf einer der Männer ein. „Und es hat nichts gebracht!“
Beifälliges, jedoch respektvolles Gemurmel.
„Diesmal wird es anders sein“, versicherte der Adelige. Er löste sich aus dem Türrahmen und trat in den Raum, umweht von Schneeflocken, die durch die offene Tür hereindrangen. Seine schweren Stiefel dröhnten bei jedem Schritt auf dem Holzboden. Er zog seine Lederhandschuhe aus und steckte sie in die Tasche. „Es wird die größte Treibjagd sein, die Moorbruch je gesehen hat. Jeder Mann, der imstande ist, eine Waffe zu halten, wird mitkommen; wir werden unzählige Treiber haben, Hunde und Pferde, mein gesamtes Personal. Wir werden bei Sonnenaufgang aufbrechen und den ganzen Wald durchkämmen, Meter für Meter. Wir werden jeden Winkel absuchen, so gründlich, wie wir es noch nie getan haben. Außerdem sind wir jetzt nicht mehr auf uns allein gestellt – wir haben heute Hilfe bekommen.“ Bei diesen Worten warf er Zara durch den überfüllten Schankraum hinweg einen Blick zu, so durchdringend, dass sie sich unangenehm berührt fühlte. „Hoffen wir also, dass wir die Bestie mit vereinten Kräften endlich zur Strecke bringen. Und falls nicht ...“ Er schnalzte mit der Zunge. „Nun, dann haben wir einen Tag verschwendet. Und was ist schon ein Tag?“ Er wandte den Blick von Zara ab, ohne zu lächeln, und ließ ihn in die Menge schweifen. „Das ist alles, worum ich euch bitte“, sagte er. „Ein einziger Tag für eine einzige, letzte Jagd.“ Er sah in die Runde. „Nun, was sagt ihr?“
Die Männer im Schankraum sahen einander an, und allein der Respekt, den sie für Gregor D’Arc empfanden, sorgte dafür, dass die Aggression und die Wut aus ihren Mienen verschwanden. Einer nach dem anderen kratzte sich verlegen am Kopf und nickte und bekundete seine Zustimmung. Er hatte Recht: Was spielte ein Tag mehr oder weniger für sie schon eine Rolle? Zumal eine Treibjagd so gut oder so schlecht war wie alles andere, was sie tun konnten; im schlimmsten Falle war sie Zeitverschwendung.
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