Falk schnaubte verächtlich und warf einen Blick in die Runde; es schien, als wären die Gespräche, seit Jahn und Wanja hereingekommen waren, leiser geworden und die Ohren der Anwesenden größer, doch niemand wagte es, sie offen anzuschauen. „Nun, wenn dem so ist, dann verstehen es die meisten Moorbrucher großartig, diese Dankbarkeit für sich zu behalten.“
„Ihr dürft ihnen ihre Zurückhaltung nicht übel nehmen, Herr“, sagte Wanja in beschwichtigendem Ton. „Normalerweise sind die Menschen hier herzlich, gütig und voller Gastfreundschaft, doch seit ...“ Sie zögerte einen Moment, suchte nach den richtigen Worten. „Seit die Bestie uns heimsucht, hat sich in Moorbruch vieles geändert. Türen, die sonst stets offen standen, bleiben nun verschlossen; niemand lächelt mehr oder hat für jemand anderen ein freundliches Wort; jeder, der noch kein Familienmitglied durch die Bestie verloren hat, wird mit Argwohn betrachtet, als stecke er mit dem Ungeheuer unter einer Decke. Furcht, Trauer und Verzweiflung rauben den Menschen ihren Lebensmut, wie eine schleichende Krankheit, die von Tag zu Tag mehr um sich greift und Moorbruch Stück für Stück abtötet.“ Ihre Stimme zitterte, und ihre Lippen bebten. Zara konnte es ihr nicht verübeln; sie musste mit ansehen, wie ihr Leben und alles, was sie bislang dafür gehalten hatte, mit jeder weiteren Toten hinfortgerissen wurde wie ein Stück Treibholz in einem reißenden Strom. Da war ihre Verzweiflung nur allzu verständlich, nur allzu ... menschlich.
Zara sah der jungen Frau tief in die Augen und sagte „Wenn die Bestie eine Krankheit ist, bin ich die Arznei!“
Einen langen Moment sahen sich die beiden so unterschiedlichen Frauen an, dann trat Falk vor und rückte Wanja seinen Stuhl zurecht. „Wollt Ihr Euch nicht setzen, Mademoiselle? Standhaft zu sein ist zwar eine Tugend, doch zuweilen ist sündigen die bessere Wahl.“ Er lächelte keck, obwohl er sich alle Mühe gab, einen guten Eindruck zu machen – zu wirken wie der Gentleman, der er nie gewesen war und wohl nie sein würde.
„Danke.“ Während Wanja mit einem dankbaren Lächeln Platz nahm, zog Falk unauffällig Jahn zur Seite. „Du lieber Himmel“, raunte er ihm ins Ohr. „Du bist ein glückliches Schwein ...“ Er hatte Mühe, seine Augen von Wanja zu lassen. „Deine Liebste hat nicht zufällig eine Schwester?“
Vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich vor drei Tagen im Wald getroffen hatten, grinste Jahn. „Du hast Glück. Da kommt sie gerade ...“
Mit diesen Worten deutete er hinüber zur Tür der Gaststube, die in diesem Moment aufschwang und neben einem Schwall kalter Luft Bürgermeister Reinhard von der Wehr in den Schankraum spie, an seiner Seite ein junges Mädchen, das Wanja wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur dass sie noch einige Winter weniger erlebt zu haben schien als ihre große Schwester.
„Das“, sagte Jahn, während Falk mit offenem Mund verfolgte, wie der Bürgermeister seine jüngste Tochter in den Raum geleitete, „ist Anna.“
„Beim heiligen Bimbam“, raunte Falk, „ist hier irgendwo ein Nest?“
Jahn wiegte den Kopf. „Die Schönheit kommt von ihrer beider Mutter, die leider vor einigen Wintern viel zu früh von uns gegangen ist.“
Zara hatte gute Ohren und das Gespräch der beiden jungen Männer trotz des Lärmpegels in der Gaststube verfolgen können. Sie sah Wanja an. „Dann bist du die Tochter des Bürgermeisters?“
Wanja nickte. „Die Älteste. Meine Schwester Anna ist vier Jahre jünger.“
Jetzt ließ der Bürgermeister seinen Blick durch den Raum schweifen und sah Zara zusammen mit Wanja in der Ecke sitzen. Er schenkte Wanja ein kleines, kühles Lächeln und nickte Zara zu. Auch Anna sah ihre Schwester mit den Fremden in der Ecke sitzen, doch im Gegensatz zum Lächeln ihres Vaters war ihres offen und ehrlich. Sie winkte Wanja, ehe sie tuschelnd ein paar Worte mit ihrem Vater wechselte und dann zu ihrem Tisch kam, während von der Wehr, begleitet von respektvollem Händeschütteln und Schulterklopfen, zur Nische gegenüber der Theke ging, die man von hier aus nicht einsehen konnte.
Dann stand Anna vor Zaras Tisch, eine schlanke Siebzehnjährige in einem weiten Mantel, das flachsblonde Haar hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und mit dem gleichen offenen Lächeln gesegnet wie Wanja. Trotzdem schien sie aus anderem Holz geschnitzt als ihre Schwester, als sie jeden von ihnen der Reihe nach ansah und sagte: „Was muss eine junge Frau machen, um hier etwas Anständiges zu trinken zu kriegen?“
„Anna!“, entrüstete sich Wanja. „Was soll denn das?“
Anna warf ihrer Schwester einen trotzigen Blick zu. „Was schon? Nüchtern kann dieses Elend kein Mensch ertragen.“ Sie sah Falk herausfordernd an. „Also, was ist, Fremder?“
Falk hob die Augenbrauen und schluckte seine Überraschung herunter. Keine Frage, Anna und Wanja mochten sich sehr ähnlich sehen, doch im Innern waren sie so verschieden, wie man es sich nur denken konnte – die eine schüchtern und zurückhaltend, die andere vorlaut bis zur Unhöflichkeit. Er zog ihr einen freien Stuhl heran, schenkte ihr ein Glas mit Schnaps voll und hielt es ihr hin. „Auf Euer Wohl, junge Dame.“
Anna nahm das Glas und kippte es in einem Zug hinunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Dabei ließ sie Falk nicht aus den Augen, als wolle sie ihm damit imponieren, dass sich ihr bei diesem billigen Fusel nicht die Fußnägel aufrollten. Sie ließ das leere Glas langsam sinken. „In diesen Tagen gibt es nicht viel, wofür man den Alten Göttern dankbar sein könnte“, sagte sie, „außer für eins: dass sie uns den Schnaps geben, der nötig ist, um dieses Elend tagaus, tagein zu überstehen.“ Sie hielt Falk auffordernd das leere Glas hin.
Während Falk ihr widerwillig nachschenkte, blickte Anna in die Runde. „Ihr beiden seid also die, die gekommen sind, um uns von dem Übel zu befreien?“ Der unterschwellige Spott in ihrer Stimme war nur teilweise auf den Alkohol zurückzuführen, der durch ihre Blutbahnen zirkulierte. „Ihr seht gar nicht aus wie große Retter!“
„Das liegt vielleicht daran, dass wir noch neu in diesem Gewerbe sind“, gab Falk lakonisch zurück. „Aber wir werden die Bestie schon erledigen.“
„Keine Frage“, erwiderte Anna sarkastisch. Da Falk ihr noch immer nicht nachgeschenkt hatte, griff sie nun selbst nach der Flasche und füllte ihr Glas bis zum Rand. „Und wenn ihr mit dem Ungetüm fertig seid, könnt ihr euch ja auch gleich noch um den ganzen anderen Abschaum in diesem Kaff kümmern, an dem die Bestie leider kein Interesse hat.“
„Anna!“, raunte Wanja, ehrlich entsetzt. „Hör dich nur reden!“
Annas Kopf ruckte herum wie der einer angreifenden Schlange, und plötzlich funkelte kaum verhohlene Wut in ihren Augen. „Stimmt doch!“, blaffte sie. „Alle tun plötzlich so, als wären wir eine Gemeinschaft, eine große Familie, in der jeder auf jeden zählen kann. Aber letzten Endes ist noch immer alles genauso wie früher, bevor die Bestie kam: Nach außen hin zeigen sie Anteilnahme und Trauer und legen sich gegenseitig die Hand auf die Schultern, aber insgeheim ist jedes der Weibsbilder froh, wenn es eine andere und nicht sie selbst erwischt, und jeder Vater betet jeden Abend darum, dass die Bestie beim nächsten Mal über die Tochter seines Nachbarn herfallt und nicht über seine eigene!“
Wanja holte tief Luft, um ihre Schwester in die Schranken zu weisen – auch wenn sie vermutlich wusste, dass Anna Recht hatte –, doch bevor sie dazu kam, war aus der Nische gegenüber der Theke mit einem Mal eine dröhnende Baritonstimme zu hören, so laut, dass sie das Stimmengewirr im Schankraum übertönte, tief und durchdringend, fast so wie das Dröhnen der Glocken, das bei ihrer Ankunft über Moorbruch zu ihnen herübergeweht war. Und einen Moment später zeigte sich, dass dieser Vergleich recht treffend war.
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