Die Menschen wollten glauben, dass Salieri Recht hatte.
Sie wollten glauben, dass all dies der Wille einer höheren Macht war. Dass man das Böse besiegen konnte, indem man einfach zu Gott fand – oder zumindest so tat – und Ihm ein Opfer darbrachte, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Natürlich, es war ja auch viel einfacher, das Ganze als etwas Gottgegebenes anzusehen, als sich einzugestehen, dass sie die Bestie aus eigener Kraft nicht loswurden, dass die Bestie nur deshalb immer wieder neue Opfer fand, weil die Einwohner von Moorbruch unfähig waren, ihre Lieben wirkungsvoll zu schützen und dem Ungeheuer habhaft zu werden.
Zara konnte die Menschen einfach nicht verstehen – nicht nur die hier in Moorbruch, sondern die Menschheit insgesamt. Wenn alles seinen normalen Gang ging und jeder sein Auskommen hatte, verschwendete niemand auch nur einen Gedanken an Gott und war bereit, nach dessen Gesetzen zu leben. Doch sobald die Dinge aus der Bahn gerieten und sich der Kontrolle der Menschen entzogen, fielen sie auf die Knie und beteten so inständig um göttlichen Beistand. Gott war für sie nur dann eine Option, wenn sie selbst nicht mehr weiterwussten.
Das schien auch Bürgermeister von der Wehr so zu sehen, der in diesem Moment aus der Nische trat, in der zuvor auch Salieri gesessen hatte, in die Mitte des Raumes kam und in einer beschwichtigenden Geste die Arme hob. „Meine Freunde!“, rief er, nach besten Kräften bemüht, den Tumult im Schankraum zu übertönen, was ihm jedoch kaum gelang. „Meine Freunde, so hört mich an! Egal, wie sehr ihr trauert oder wie verzweifelt ihr seid, so dürft ihr doch nicht aus den Augen verlieren, dass wir überhaupt nicht wissen, womit wir es hier zu tun haben. Salieri und seine Gottesfürchtigkeit in allen Ehren, aber wir wissen nichts über die Bestie – nicht das Geringste! Wir wissen nicht, ob Gott uns die Bestie geschickt hat oder der Teufel, oder ob es einfach nur eine Plage der Natur ist, die sich mit Schwert und Feuer ausrotten lässt! Und solange wir nicht wissen, mit was wir es eigentlich zu tun haben, sollten wir nicht hingehen und uns zu Dingen aufstacheln lassen, die wir hinterher womöglich bitterlich bereuen!“ Er versuchte, seine Worte eindringlich und überzeugend klingen zu lassen, doch selbst in seinen eigenen Ohren musste sich seine Ansprache fad und abgedroschen anhören.
„Du hast gut reden, Bürgermeister!“, rief ein älterer dicker Mann an der Theke, die Wangen über dem krausen, wild wuchernden Vollbart von einem Gitterwerk feiner roter Äderchen durchzogen. „Du hast ja noch beide Töchter!“
Andere Männer stimmten lautstark in diesen Widerspruch ein.
„Und gerade deshalb“, rief von der Wehr über den Tumult hinweg, „gerade deshalb will ich wie jeder andere hier, dass die Bestie so rasch wie möglich in ihrem blutigen Treiben gestoppt wird, bevor es weitere Opfer zu beklagen gibt! Denn es gibt noch viele Familien im Ort, denen dieses Schicksal bislang erspart blieb, und auch wenn es herzlos klingen mag, sollten wir alles daransetzen, dass es so bleibt, und all jener gedenken, die dieses Glück nicht hatten. Doch so ein Opfer“, der Bürgermeister hatte Mühe, die wütenden Zwischenrufe der aufgebrachten Menge zu übertönen, „ein Opfer wie das, das Salieri fordert, kann nicht die Lösung sein! Wir wissen nicht, ob dies hier wirklich Gottes Werk ist; es kann genauso gut das Wirken des Teufels sein oder irgendeiner anderen garstigen Kreatur, oder die Bestie ist tatsächlich nichts weiter als ein tollwütiges Tier, das uns bislang nur mit Glück durch die Fänge geschlüpft ist. Doch was ihr da verlangt – was Salieri verlangt – kann nicht die Lösung sein!“ Er warf dem Priester einen Blick zu, in dem sich Wut und der Wunsch nach Hilfe die Waage hielten, doch wenn er gehofft hatte, Salieri würde einlenken, dann lag er falsch; der Priester stand einfach nur stoisch inmitten seiner Anhänger, mit unbewegter Miene, und gab sich im Stillen dem Gefühl des Triumphs hin.
„Wenn es Gottes Wille ist“, rief der Wirt von der Theke herüber, „dann müssen wir uns Seinem Willen beugen, um noch größeres Unheil von uns und den unseren abzuwenden. Gerade du, von der Wehr, solltest der Erste sein, der jede Möglichkeit in Betracht zieht, um uns von diesem Übel zu erlösen! Immerhin bist du unser Bürgermeister, und das Wohl der Gemeinde sollte für dich an erster Stelle stehen, noch vor deiner Familie und allem anderen, was dir lieb ist. Stattdessen stellst du dich hin und verlangst von denen, die Kinder und Frauen und Schwestern verloren haben, ebenso wie von denen, denen dieses Schicksal noch droht, nichts zu tun. Nichts zu tun! Als würde Nichtstun die Bestie aufhalten!“
Zustimmende Rufe, zorniges Gemurre.
Ein Mann trat aus der zweiten Reihe nach vorn, den Arm um die Schulter einer jungen Frau in Männerkleidung gelegt. „Das ist Tyra, meine jüngste Tochter“, sagte er, den Tränen nahe.
„Ihre Schwester wurde von der Bestie zerfleischt. Sie war noch keine achtzehn. Und nun soll ich riskieren, dass mir auch noch meine zweite Tochter genommen wird, das Letzte, das mir geblieben ist im Leben?“ Er zog das Mädchen dichter an sich und schüttelte den Kopf. „O nein, Bürgermeister, das werde ich nicht zulassen. Soll jemand, der in diesem Winter des Niedergangs noch niemanden verloren hat, ein Opfer bringen, wenn Gott so besänftigt und die Bestie vertrieben werden kann. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, damit das Morden endlich ein Ende findet!“
Die anderen Männer stimmten dem lautstark zu. Die Stimmung im Schankraum wurde zunehmend gereizter, und das Gemurre nahm von Sekunde zu Sekunde zu, doch Bürgermeister von der Wehr ließ sich davon nicht beirren.
„Ich weiß, dass dies keine leichte Bürde ist“, sagte er beschwichtigend, „aber auch wenn dies hier keine Prüfung am Glauben ist, so ist es doch ohne Frage eine Prüfung unserer Vernunft, und unsere Vernunft ist es, die uns vom Tier unterscheidet. Also lasst uns auf diese Vernunft vertrauen und nichts überstürzen! Lasst uns nichts tun, das wir hinterher bereuen könnten, ich bitte euch!“ Er schaute sich Hilfe suchend und ein wenig verloren im Schankraum um, in der Hoffnung, ihm würde von irgendeiner Seite Unterstützung zuteil werden. Doch niemand stand ihm bei, nicht einmal sein eigen Fleisch und Blut, denn statt ihrem Vater beizupflichten, murmelte Anna am Ecktisch neben Zara mit abschätziger Stimme: „Schwätzer.“ Sie griff nach der Flasche und schenkte sich noch ein Glas voll. „Dummes Geschwätz“, murmelte sie, „nichts weiter.“
„Anna!“, raunte Wanja entsetzt.
Anna warf ihr einen wütenden Blick zu. „Ist doch wahr“, blaffte sie. „Unser Vater ...“ Sie spie das Wort aus wie einen Brocken faules Fleisch. „Wie kann er sich einfach hinstellen und Vernunft predigen, indes das Ungetüm draußen womöglich bereits auf der Jagd nach dem nächsten Opfer ist?“
„Weil er weiß, wohin das hier führt“, sagte Zara bedächtig, den Blick auf Anna gerichtet. „Offenbar begreift Ihr nicht, worum es hier geht, junges Fräulein. Euer Vater versucht, die Menschen davon abzuhalten, selbst zu Bestien zu werden. Der Trunkenbold von einem Priester verlangt, dass sie das opfern, was sie am meisten lieben, genau wie Abraham, dem sein Gott einst auftrug, auf dem Berg in Kanaan seinen einzigen Sohn Isaak auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, um Gott so seinen Gehorsam zu zeigen.“
Anna runzelte die Stirn. Mit einem Mal verschwand der aggressive Ausdruck aus ihren Augen und machte echter Besorgnis Platz. „Ihr meint...“
Zara nickte. „Ein Blutopfer“, sagte sie. „Aufs Geratewohl und ohne zu wissen, ob sich dadurch irgendetwas ändern wird.“ Noch immer betrachtete sie Anna mit durchdringendem Blick. „Wie ist es? Stellt Ihr Euch für diese wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe zur Verfügung? Freiwillig?“
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