„Und ich sage Euch, dieses Monster ist eine Strafe Gottes! Gott, der einzige Herr, hat sie uns geschickt, um uns zu prüfen und uns zu läutern, und wenn wir den Herrn nicht besänftigen, wird das Ungeheuer uns alle holen, einen nach dem anderen! Ja, verdammt, uns alle, bis Moorbruch ausgestorben ist! Das ist der Wille des Herrn! Hallelujah, sag ich!“
Schlagartig wurde es im Schankraum mucksmäuschenstill. Alle Köpfe ruckten zu der Nische herum, aus der nun ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann in einem schlichten lilafarbenen Priestertalar trat, der Kragen wie ein blütenweißer Ring um seinen fleischigen Hals. Um die Hüfte des Talars lief ein dünner Gürtel aus Goldfäden, und auch der Saum des Priesterrocks war mit goldenen Insignien bestickt.
Es handelte sich um einen Priester jener Religion, die nur einen Gott kannte, den Gott der Liebe und der Gnade. Eine Religion der Erlösung, die sich in Ancaria immer mehr verbreitete und die Alten Götter in vielen Landstrichen nahezu gänzlich verdrängt hatte. Dass die Menschen in Moorbruch Anhänger dieses Glaubens waren, hatte Zara bereits erkannt, als sie das Geläut der Kirche vernommen und auf dem Friedhof die Kreuze gesehen hatte.
Das Gesicht des Priesters war pausbäckig und von zu viel gutem Wein und fettem Essen aufgequollen, der Schädel bis auf die Kopfhaut kahl geschoren. Aus dem Tonkrug, den er in der linken Hand schwenkte, schwappte schaumiges Bier, als der Priester in die Mitte des Raumes taumelte und mit wilden, funkelnden Augen um sich starrte; offenbar hatte er heute bereits mehr als einen Humpen genossen. Sein schneidender Blick glitt von einem zum anderen, und nicht wenige der Anwesenden wichen vorsorglich einen Schritt zurück, als sie der Blick des Glaubensmannes traf.
„Das ist Salieri, der Priester hier“, raunte Jahn leise.
Salieri blieb schwankend in der Mitte des Schankraums stehen, den Bierkrug in der Hand. „Der Mensch“, grollte der Priester düster und mit leiserer Stimme als zuvor, „ist schwach. Der Herr schuf uns dereinst nach Seinem Angesicht, doch nur äußerlich, denn in uns“, hierbei schlug er sich mit der freien Hand an die Brust, „in uns sieht es anders aus. Unsere Seelen sind Mördergruben, so schwarz wie die tiefsten Tiefen der Hölle. Neid, Missgunst, Arroganz, Hochmut, Ehebruch, Lug, Betrug, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust...“ Bei jeder Sünde, die er aufzählte, starrte er einen anderen der Männer im Schankraum an, die unwillkürlich vor diesem gewaltigen, rechtschaffenen Stier im Gewand Gottes einen Schritt zurückwichen. „Keiner in unserer Mitte ist mehr ohne Schuld. Wir haben seine Schöpfung korrumpiert, sie so weit erniedrigt, dass keiner unter uns mehr imstande ist, den ersten Stein zu werfen, und genau deshalb, ihr Sünder“, jetzt ging er mit ausgestrecktem Zeigefinger von einem zum anderen und starrte jedem durchdringend in die Augen, „genau deshalb hat Gott uns die Bestie geschickt – um uns zu läutern; um uns zu zeigen, wie falsch und selbstgefällig unser Tun und Handeln ist und dass wir verdammt sind, wenn wir unsere Fehler nicht erkennen und wieder auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Die Bestie ist hier, um uns für unsere Sünden zu bestrafen, um uns wieder Demut vor Gott zu lehren, und egal, wie sehr wir ihre Taten auch verabscheuen und versuchen, das Ungetüm zu töten, uns wird kein Erfolg beschieden sein, denn die Bestie ist nicht von dieser Welt; sie ist Gottes Instrument der Bestrafung, und solange wir unsere Strafe nicht in vollem Umfang erhalten haben, ist das Biest für unsere Waffen unerreichbar. Keine Klinge wird es je verletzten, keine Kugel es je zu Fall bringen, keine Falle es je einfangen. Die Bestie ist wie Nebel, nicht fasslich und doch so greifbar, dass es unmöglich ist, sie zu leugnen. Sie ist Gottes Instrument der Strafe für uns. Doch Er bestraft uns nicht wirklich, sage ich euch; nein, Gott ist gütig und barmherzig. Er bestraft uns nicht, sondern er stellt uns auf die Probe, meine Kinder.“
„Hallelujah“, murmelten zwei oder drei Männer im Schankraum leise, fast andächtig, während Salieri einen großen Schluck aus seinem Krug nahm, sich mit der flachen Hand den Schaum aus dem wild wuchernden weißen Bart wischte und seine Predigt voller Leidenschaft fortsetzte.
„Dies ist eine Prüfung Gottes!“, donnerte er und ging weiter im Schankraum umher, alle Augen auf sich wissend. „Eine Prüfung unserer Standhaftigkeit und unseres Glaubens. Gott will, dass wir Ihm zeigen, dass wir glauben; dass wir uns wieder zu Ihm und Seinen Idealen bekennen und den Sünden der Vergangenheit entsagen, all dem Neid und der Missgunst und der verderbten Fleischeslust, die unsere Seelen befallen haben wie ein Krebsgeschwür. Meine Brüder, wir müssen dieses eiternde Geschwür rausreißen ...“ Bei diesen Worten schlug er sich mit der geballten Faust auf die Brust und riss wuchtig ein imaginäres Etwas aus seinem Leib, das er trotzig vor sich hielt, unsichtbar und doch so plastisch beschrieben, dass jeder der Anwesenden es in seiner Hand zucken zu sehen glaubte. „Wir müssen dieses Geschwür aus unseren Leibern und aus unseren Seelen und aus unser aller Leben reißen, um Gott dem Allmächtigen zu zeigen, dass wir unsere Lektion gelernt haben! Und um das zu tun, müssen wir Gott das größte Opfer bringen, das ein Mensch nur bringen kann, so wie Abraham es einst auf dem Berg mit seinem Sohn Isaak tat, um Gott seinen Gehorsam zu zeigen. Nur so können wir uns von dieser unserer Schuld reinwaschen – indem wir Gott aus freien Stücken und ohne Reue das geben, was er sich selbst durch die Bestie mit Gewalt holen würde!“ Er verstummte, schnaufend von seiner Ansprache, und trank gierig den Rest des Biers, das noch in seinem Krug war.
Im Schankraum war es still wie auf einem Friedhof; es schien, als wage es niemand auch nur zu atmen. Die Welt schien erstarrt, alle Augen waren auf den Priester gerichtet. Selbst der Rauch der vielen Pfeifen schien in der Luft zu reglosen Nebelschwaden erstarrt. Endlose Sekunden lang sagte niemand ein Wort, als ob die Anwesenden darauf warteten, dass Salieri seine Predigt fortsetzte. Doch der Priester hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte, und er gab sich damit zufrieden, keuchend in ihrer Mitte zu stehen. Dabei strahlte er eine seltsame Aura von Respekt, Furcht und göttlicher Vorsehung aus, wie die Statue eines legendären Helden auf einem Marktplatz, zu der die Menschen voller Ehrfurcht aufsahen. Sein Blick glitt wild in die Runde, und dann sah Salieri hinüber zum Ecktisch und starrte Zara mit diesen durchdringenden graublauen Augen an, die sie zu sezieren schienen wie ein Paar scharfe Klingen. Im Licht der Lampen blitzte ein goldener Siegelring am Ringfinger seiner rechten Hand, ein imposanter Ring aus massivem Gold mit einer eingelassenen Siegelplatte, doch Zara konnte das Motiv aus der Entfernung nicht erkennen.
Sie wunderte sich über die Worte des Priesters. Ihres Wissens lehnte gerade seine Religion Menschenopfer ab, und soweit sie sich erinnerte, hatte Abraham seinen Sohn Isaak auch nicht geopfert, denn sein Gott hatte vorher eingegriffen und statt des Menschenopfers das Blut eines Tiers verlangt. Deshalb kamen ihr die Worte des Priesters mehr als seltsam vor.
Doch sie schienen auf die Menschen von Moorbruch ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Noch immer war es still im Schankraum, bis jemand plötzlich ehrfürchtig raunte: „Hallelujah!“ Und noch einmal, ein wenig lauter: „Hallelujah!“
Zögerlich wurden weitere Stimmen laut, die mit einstimmten. „Hallelujah!“, raunte der Mann am Tisch zwischen dem von Zara, kippte seinen Fusel mit einem Zug hinunter und sagte dann lauter: „Hallelujah!“ Der Kerl neben ihm stimmte ebenfalls mit ein, und dann murmelten plötzlich Dutzende Stimmen im Schankraum „Hallelujah!“, erst leise und zurückhaltend, dann immer lauter und leidenschaftlicher, und mit jeder weiteren Stimme und jedem weiteren „Hallelujah!“, das aus drei Dutzend Kehlen schallte, veränderte sich die Stimmung im Schankraum zusehends. Zuvor waren die Menschen voller Furcht, Trauer und Hoffnungslosigkeit gewesen, doch je lauter die Rufe wurden, desto mehr wurden aus Angst und Trauer Wut und Zorn, und als der Erste aufsprang, sein überschwappendes Glas in die Luft stieß und aus voller Kehle „Hallelujah!“ brüllte, stimmten nach und nach weitere Kehlen in den Ruf ein, bis der Schankraum schließlich widerhallte vom kollektiven Glaubensausruf der Versammelten. Und Salieri stand in ihrer Mitte, wuchtig und stoisch wie ein Fels in der Brandung, und hatte Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. So viel Gottesfürchtigkeit, wie sie einem jetzt hier entgegenschlug, hatte er bei den Messen in seiner Kirche wohl noch nie erfahren.
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