1 ...6 7 8 10 11 12 ...66 »Warum?«, sagte Harry.
»Keine dummen Fragen!«, fuhr ihn der Onkel an. »Bring dieses Zeug nach oben, aber sofort.«
Das Haus der Dursleys hatte vier Schlafzimmer: eines für Onkel Vernon und Tante Petunia, eines für Besucher (meist Onkel Vernons Schwester Marge), eines, in dem Dudley schlief, und eines, in dem Dudley all seine Spielsachen und die Dinge aufbewahrte, die nicht mehr in sein erstes Schlafzimmer paßten. Harry mußte nur einmal nach oben gehen und schon hatte er all seine Sachen aus dem Schrank in das neue Zimmer gebracht. Er setzte sich aufs Bett und ließ den Blick kreisen. Fast alles hier drin war kaputt. Die einen Monat alte Videokamera lag auf einem kleinen, noch funktionierenden Panzer, den Dudley einmal über den Hund der Nachbarn gefahren hatte. in der Ecke stand Dudleys erster Fernseher. Als seine Lieblingssendung abgesetzt wurde, hatte er den Fuß durch den Bildschirm gerammt. Auch ein großer Vogelkäfig stand da, in dem einmal ein Papagei gelebt hatte, den Dudley in der Schule gegen ein echtes Luftgewehr getauscht hatte. Es lag mit durchgebogenem Lauf auf einem Regal, denn Dudley hatte sich darauf niedergelassen. Andere Regale standen voller Bücher. Das waren die einzigen Dinge in dem Zimmer, die aussahen, als wären sie nie angerührt worden.
Von unten war Dudley zu hören, wie er seine Mutter anbrüllte. »Ich will ihn nicht da drin haben… Ich brauche dieses Zimmer. Er soll wieder ausziehen. -«
Harry seufzte und streckte sich auf dem Bett aus. Gestern noch hätte er alles darum gegeben, hier oben zu sein. Heute wäre er lieber wieder in seinem Schrank mit dem Brief in der Hand statt hier oben ohne ihn.
Am nächsten Morgen beim Frühstück waren alle recht schweigsam. Dudley stand unter Schock. Er hatte geschrien, seinen Vater mit dem Smelting-Stock geschlagen, sich absichtlich übergeben, seine Mutter getreten und seine Schildkröte durch das Dach des Gewächshauses geworfen, aber sein Zimmer hatte er trotzdem nicht zurückbekommen. Harry dachte darüber nach, was gestern beim Frühstück geschehen war. Hätte er den Brief doch nur schon im Flur geöffnet, dachte er voll Bitterkeit.
Onkel Vernon und Tante Petunia sahen sich unablässig mit düsterer Miene an.
Die Post kam, und Onkel Vernon, der offenbar versuchte nett zu Harry zu sein, ließ Dudley aufstehen und sie holen. Sie konnten ihn hören, wie er den ganzen Flur entlang mit seinem Smelting-Stock mal hierhin, mal dorthin schlug. Dann rief er:
»Da ist schon wieder einer! Mr. H. Potter, Das kleinste Schlafzimmer, Ligusterweg 4 -«
Mit einem erstickten Schrei sprang Onkel Vernon von seinem Stuhl hoch und rannte den Flur entlang, Harry dicht hinter ihm – Onkel Vernon mußte Dudley zu Boden ringen, um ihm den Brief zu entwinden, was schwierig war, weil Harry Onkel Vernon von hinten um den Hals gepackt hatte. Nach einem kurzen Gerangel, bei dem jeder ein paar saftige Schläge mit dem Smelting-Stock einstecken mußte, richtete sich Onkel Vernon nach Luft ringend auf und hielt Harrys Brief in der Hand.
»Verschwinde in deinen Schrank – ich meine, dein Zimmer«, japste er Harry zu. »Dudley – geh – ich bitte dich, geh.«
Oben in seinem neuen Zimmer ging Harry auf und ab, auf und ab. Jemand wußte, daß er aus dem Schrank ausgezogen war, und offenbar auch, daß er den ersten Brief nicht erhalten hatte. Das bedeutete doch gewiß, daß sie es wieder versuchen würden? Und das nächste Mal würde er dafür sorgen, daß es klappte. Er hatte einen Plan ausgeheckt.
Um sechs Uhr am nächsten Morgen klingelte der reparierte Wecker. Harry brachte ihn rasch zum Verstummen und zog sich leise an. Er durfte die Dursleys nicht aufwecken. Ohne Licht zu machen, stahl er sich die Treppe hinunter.
Er würde an der Ecke des Ligusterwegs auf den Postboten warten und sich die Briefe für Nummer 4 gleich geben lassen. Mit laut pochendem Herzen stahl er sich durch den dunklen Flur zur Haustür -
»AAAAAUUUUUH!«
Harry machte einen Sprung in die Luft – er war auf etwas Großes und Matschiges getreten, das auf der Türmatte lag – etwas Lebendiges!
Im ersten Stock gingen Lichter an, und mit einem furchtbaren Schreck wurde Harry klar, daß das große matschige Etwas das Gesicht seines Onkels war. Onkel Vernon hatte in einem Schlafsack vor der Tür gelegen, und zwar genau deshalb, um Harry daran zu hindern, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Er schrie Harry etwa eine halbe Stunde lang an und befahl ihm dann, Tee zu kochen. Niedergeschlagen schlurfte Harry in die Küche, und als er zurückkam, war die Post schon eingeworfen worden, mitten auf den Schoß von Onkel Vernon. Harry konnte drei mit grüner Tinte beschriftete Briefe erkennen.
»Ich will -«, begann er, doch Onkel Vernon zerriß die Briefe vor seinen Augen in kleine Fetzen.
An diesem Tag ging Onkel Vernon nicht zur Arbeit. Er blieb zu Hause und nagelte den Briefschlitz zu.
»Weißt du«, erklärte er Tante Petunia mit dem Mund voller Nägel,»wenn sie die Briefe nicht zustellen können, werden sie es einfach bleiben lassen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das klappt, Vernon.«
»Oh, diese Leute haben eine ganz merkwürdige Art zu denken, Petunia, sie sind nicht wie du und ich«, sagte Onkel Vernon und versuchte einen Nagel mit dem Stück Obstkuchen einzuschlagen, den ihm Tante Petunia soeben gebracht hatte.
Am Freitag kamen nicht weniger als zwölf Briefe für Harry. Da sie nicht in den Briefschlitz gingen, waren sie unter der Tür durchgeschoben, zwischen Tür und Rahmen geklemmt oder durch das kleine Fenster der Toilette im Erdgeschoß gezwängt worden.
Wieder blieb Onkel Vernon zu Hause. Nachdem er alle Briefe verbrannt hatte, holte er sich Hammer, Nägel und Leisten und nagelte die Spalten an Vorder- und Hintertür zu, so daß niemand hinausgehen konnte. Beim Arbeiten summte er »Bi-Ba-Butzemann« und zuckte beim kleinsten Geräusch zusammen.
Am Sonnabend gerieten die Dinge außer Kontrolle. Vierundzwanzig Briefe für Harry fanden den Weg ins Haus, zusammengerollt im Innern der zwei Dutzend Eier versteckt, die der völlig verdatterte Milchmann Tante Petunia durch das Wohnzimmerfenster hineingereicht hatte. Während Onkel Vernon wütend beim Postamt und bei der Molkerei anrief und versuchte jemanden aufzutreiben, bei dem er sich beschweren konnte, zerschnitzelte Tante Petunia die Briefe in ihrem Küchenmixer.
»Wer zum Teufel will so dringend mit dir sprechen?«, fragte Dudley Harry ganz verdutzt.
Als sich Onkel Vernon am Sonntagmorgen an den Frühstückstisch setzte, sah er müde und ziemlich erschöpft, aber glücklich aus.
»Keine Post an Sonntagen«, gemahnte er sie fröhlich, während er seine Zeitung mit Marmelade bestrich, #keine verfluchten Briefe heute -e
Während er sprach, kam etwas pfeifend den Küchenkamin heruntergesaust und knallte gegen seinen Hinterkopf Einen Augenblick später kamen dreißig oder vierzig Briefe wie Kugeln aus dem Kamin geschossen. Die Dursleys gingen in Deckung, doch Harry hüpfte in der Küche umher und versuchte einen Brief zu fangen.
»Raus! RAUS!«
Onkel Vernon packte Harry um die Hüfte und warf ihn hinaus in den Flur. Als Tante Petunia und Dudley mit den Armen über dem Gesicht hinausgerannt waren, knallte Onkel Vernon die Tür zu. Sie konnten die Briefe immer noch in die Küche rauschen und gegen die Wände und den Fußboden klatschen hören.
»Das reicht«, sagte Onkel Vernon. Er versuchte ruhig zu sprechen, zog jedoch gleichzeitig große Haarbüschel aus seinem Schnurrbart. »Ich möchte, daß ihr euch alle in fünf Minuten hier einfindet, bereit zur Abreise. Wir gehen. Packt ein paar Sachen ein. Und keine Widerrede!«
Mit nur einem halben Schnurrbart sah er so gefährlich aus, daß niemand ein Wort zu sagen wagte. Zehn Minuten später hatten sie sich durch die brettervernagelten Türen gezwängt, saßen im Wagen und sausten in Richtung Autobahn davon. Auf dem Rücksitz wimmerte Dudley vor sich hin; sein Vater hatte ihm links und rechts eine geknallt, weil er sie aufgehalten hatte mit dem Versuch, seinen Fernseher, den Videorecorder und den Computer in seine Sporttasche zu packen.
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