1 ...7 8 9 11 12 13 ...66 Sie fuhren. Und sie fuhren. Selbst Tante Petunia wagte nicht zu fragen, wo sie denn hinfuhren. Hin und wieder machte Onkel Vernon scharf kehrt und fuhr dann eine Weile in die entgegengesetzte Richtung.
»Schüttel sie ab… schüttel sie ab«, murmelte er immer dann, wenn er umkehrte.
Den ganzen Tag über hielten sie nicht einmal an, um etwas zu essen oder zu trinken. Als die Nacht hereinbrach, war Dudley am Brüllen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen so schlechten Tag gehabt. Er war hungrig, er hatte fünf seiner Lieblingssendungen im Fernsehen verpaßt, und er hatte noch nie so lange Zeit verbracht, ohne am Computer einen Außerirdischen in die Luft zu jagen.
Endlich machte Onkel Vernon vor einem düster aussehenden Hotel am Rande einer großen Stadt Halt. Dudley und Harry teilten sich ein Zimmer mit Doppelbett und feuchten, niedrigen Decken. Dudley schnarchte, aber Harry blieb wach. Er saß an der Fensterbank, blickte hinunter auf die Lichter der vorbeifahrenden Autos und dachte lange nach…
Am nächsten Morgen frühstückten sie muffige Cornflakes und kalte Dosentomaten auf Toast. Kaum waren sie fertig, trat die Besitzerin des Hotels an ihren Tisch.
»Verzeihn Sie, aber ist einer von Ihnen Mr. H. Potter? Es ist nur – ich hab ungefähr hundert von diesen Dingern am Empfangsschalter.«
Sie hielt einen Brief hoch, so daß sie die mit grüner Tinte geschriebene Adresse lesen konnten:
Mr. H. Potter
Zimmer 17
Hotel zum Bahnblick
Cokeworth
Harry schnappte nach dem Brief doch Onkel Vernon schlug seine Hand weg. Die Frau starrte sie an.
»Ich nehme sie«, sagte Onkel Vernon, stand rasch auf und folgte ihr aus dem Speisezimmer.
»Wäre es nicht besser, wenn wir einfach nach Hause fahren würden, Schatz?«, schlug Tante Petunia einige Stunden später mit schüchterner Stimme vor. Doch Onkel Vernon schien sie nicht zu hören. Keiner von ihnen wußte, wonach genau er suchte. Er fuhr sie in einen Wald hinein, stieg aus, sah sich um, schüttelte den Kopf, setzte sich wieder ins Auto, und weiter ging's. Dasselbe geschah inmitten eines umgepflügten Ackers, auf halbem Weg über eine Hängebrücke und auf der obersten Ebene eines mehrstöckigen Parkhauses.
»Daddy ist verrückt geworden, nicht wahr?«, fragte Dudley spät am Nachmittag mit dumpfer Stimme Tante Petunia. Onkel Vernon hatte an der Küste geparkt, sie alle im Wagen eingeschlossen und war verschwunden.
Es begann zu regnen. Große Tropfen klatschten auf das Wagendach. Dudley schniefte.
»Es ist Montag«, erklärte er seiner Mutter »Heute kommt der Große Humberto. Ich will dahin, wo sie einen Fernseher haben.«
Montag. Das erinnerte Harry an etwas. Wenn es Montag war – und meist konnte man sich auf Dudley verlassen, wenn es um die Wochentage ging, und zwar wegen des Fernsehens -, dann war morgen Dienstag, Harrys elfter Geburtstag. Natürlich waren seine Geburtstage nie besonders lustig gewesen – letztes Jahr hatten ihm die Dursleys einen Kleiderbügel und ein Paar alte Socken von Onkel Vernon geschenkt. Trotzdem, man wird nicht jeden Tag elf.
Onkel Vernon kam zurück mit einem Lächeln auf dem Gesicht. In den Händen trog er ein langes, schmales Paket, doch auf Tante Petunias Frage, was er gekauft habe, antwortete er nicht.
»Ich habe den idealen Platz gefunden!«, sagte er. »Kommt! Alle aussteigen!«
Draußen war es sehr kalt. Onkel Vernon wies hinaus aufs Meer, wo in der Ferne ein großer Felsen zu erkennen war. Auf diesem Felsen thronte die schäbigste kleine Hütte, die man sich vorstellen kann. Eins war sicher, einen Fernseher gab es dort nicht.
»Sturmwarnung für heute Nacht!«, sagte Onkel Vernon schadenfroh und klatschte in die Hände. »Und dieser Gentleman hier hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns sein Boot zu leihen!«
Ein zahnloser alter Mann kam auf sie zugehumpelt und deutete mit einem recht verschmitzten Grinsen auf ein altes Ruderboot im stahlgrauen Wasser unter ihnen.
»Ich hab uns schon einige Futterrationen besorgt«, sagte Onkel Vernon,»also alles an Bord!«
Im Boot war es bitterkalt. Eisige Gischt und Regentropfen krochen ihnen die Rücken hinunter und ein frostiger Wind peitschte über ihre Gesichter Nach Stunden, so kam es ihnen vor, erreichten sie den Fels, wo sie Onkel Vernon rutschend und schlitternd zu dem heruntergekommenen Haus führte.
Innen sah es fürchterlich aus; es stank durchdringend nach Seetang, der Wind pfiff durch die Ritzen der Holzwände und die Feuerstelle war naß und leer. Es gab nur zwei Räume.
Onkel Vernons Rationen stellten sich als eine Packung Kräcker für jeden und vier Bananen heraus. Er versuchte ein Feuer zu machen, doch die leeren Kräcker-Schachteln gaben nur Rauch von sich und schrumpelten zusammen.
»Jetzt könnte ich ausnahmsweise mal einen dieser Briefe gebrauchen, Leute«, sagte er fröhlich.
Er war bester Laune. Offenbar glaubte er, niemand hätte eine Chance, sie hier im Sturm zu erreichen und die Post zuzustellen. Harry dachte im Stillen das Gleiche, doch der Gedanke munterte ihn überhaupt nicht auf
Als die Nacht hereinbrach, kam der versprochene Sturm um sie herum mächtig in Fahrt. Gischt von den hohen Wellen spritzte gegen die Wände der Hütte und ein zorniger Wind rüttelte an den schmutzigen Fenstern. Tante Petunia fand ein paar nach Aal riechende Leintücher und machte Dudley auf dem mottenzerfressenen Sofa ein Bett zurecht. Sie und Onkel Vernon gingen ins zerlumpte Bett nebenan, und Harry mußte sich das weichste Stück Fußboden suchen und sich unter der dünnsten, zerrissensten Decke zusammenkauern.
Die Nacht rückte vor und immer wütender blies der Sturm. Harry konnte nicht schlafen. Er bibberte und wälzte sich hin und her, um es sich bequemer zu machen, und sein Magen röhrte vor Hunger. Dudleys Schnarchen ging im rollenden Donnern unter, das um Mitternacht anhob. Der Leuchtzeiger von Dudleys Uhr, die an seinem dicken Handgelenk vom Sofarand herunterbaumelte, sagte Harry, daß er in zehn Minuten elf Jahre alt sein würde. Er lag da und sah zu, wie sein Geburtstag tickend näher rückte. Ob die Dursleys überhaupt an ihn denken würden?, fragte er sich. Wo der Briefeschreiber jetzt wohl war?
Noch fünf Minuten. Harry hörte draußen etwas knacken. Hoffentlich kam das Dach nicht herunter, auch wenn ihm dann vielleicht wärmer sein würde. Noch vier Minuten. Vielleicht war das Haus am Ligusterweg, wenn sie zurückkamen, so voll gestopft mit Briefen, daß er auf die eine oder andere Weise einen davon stibitzen konnte.
Noch drei Minuten. War es das Meer, das so hart gegen die Felsen schlug? und (noch zwei Minuten) was war das für ein komisches, mahnendes Geräusch? Zerbrach der Fels und stürzte ins Meer?
Noch eine Minute und er war elf Dreißig Sekunden… zwanzig… zehn… neun – vielleicht sollte er Dudley aufwecken, einfach um ihn zu ärgern – drei… zwei… eine -
BUMM BUMM.
Die ganze Hütte erzitterte. Mit einem Mal saß Harry kerzengerade da und starrte auf die Tür. Da draußen war Jemand und klopfte.
BUMM, BUMM. Wieder klopfte es. Dudley schreckte aus dem Schlaf
»Wo ist die Kanone?«, sagte er dumpf.
Hinter ihnen hörten sie ein lautes Krachen. Onkel Vernon kam hereingestolpert. In den Händen hielt er ein Gewehr – das war also in dem langen, schmalen Paket gewesen, das er mitgebracht hatte.
»Wer da?«, rief er. »Ich warne Sie – ich bin bewaffnet!«
Einen Augenblick lang war alles still. Dann -
SPLITTER!
Die Tür wurde mit solcher Wucht getroffen, daß sie glattweg aus den Angeln sprang und mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden landete.
In der Türöffnung stand ein Riese von Mann. Sein Gesicht war fast gänzlich von einer langen, zottigen Haarmähne und einem wilden, struppigen Bart verdeckt, doch man konnte seine Augen erkennen, die unter all dem Haar schimmerten wie schwarze Käfer.
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