Er sah zuerst sein Spiegelbild, bleich und verängstigt. Doch einen Augenblick später lächelte ihn das Spiegelbild an. Es schob die Hand in die Tasche und zog einen blutroten Stein hervor. Es zwinkerte ihm zu und ließ den Stein in die Tasche zurückgleiten – und in diesem Moment spürte Harry etwas Schweres in seine wirkliche Tasche fallen. Irgendwie – unfaßlicherweise – besaß er den Stein.
»Nun?«, sagte Quirrell ungeduldig. »Was siehst du?«
Harry nahm all seinen Mut zusammen.
»Ich sehe mich, wie ich Dumbledore die Hand schüttle«, reimte er sich zusammen. »Ich… ich hab den Hauspokal für Gryffindor gewonnen.«
Quirrell fluchte erneut.
»Aus dem Weg«, sagte er. Harry trat zur Seite und spürte den Stein der Weisen an seinem Bein. Konnte er es wagen zu fliehen?
Doch er war keine fünf Schritte gegangen, als eine hohe Stimme ertönte, obwohl sich Quirrells Lippen nicht bewegten.
»Er lügt… Er lügt… «
»Potter, komm hierher zurück!«, rief Quirrell. »Sag mir die Wahrheit! Was hast du gesehen?«
»Laß mich zu ihm sprechen… von Angesicht zu Angesicht… «
»Meister, Ihr seid nicht stark genug!«
»Ich habe genügend Kraft… dafür… «
Harry hatte das Gefühl, als würde ihn eine Teufelsschlinge auf dem Boden anwurzeln. Er konnte keinen Muskel bewegen. Versteinert sah er zu, wie Quirrell die Hände hob und seinen Turban abwickelte. Was ging da vor? Der Turban fiel zu Boden. Quirrells Kopf sah seltsam klein aus ohne ihn. Dann drehte er sich langsam auf dem Absatz um.
Harry hätte geschrien, aber er brachte keinen Ton hervor. Wo eigentlich Quirrells Hinterkopf hätte sein sollen, war ein Gesicht, das schrecklichste Gesicht, das Harry jemals gesehen hatte. Es war kreideweiß mit stierenden roten Augen und, einer Schlange gleich, Schlitzen als Nasenlöchern.
»Harry Potter… «, flüsterte es.
Harry versuchte einen Schritt zurückzutreten, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.
»Siehst du, was aus mir geworden ist?«, sagte das Gesicht. »Nur noch Schatten und Dunst… Ich habe nur Gestalt, wenn ich jemandes Körper teile… aber es gibt immer jene, die willens sind, mich in ihre Herzen und Köpfe einzulassen… Einhornblut hat mich gestärkt in den letzten Wochen… du hast den treuen Quirrell gesehen, wie er es im Wald für mich getrunken hat… und sobald ich das Elixier des Lebens besitze, werde ich mir meinen eigenen Körper erschaffen können… Nun… warum gibst du mir nicht diesen Stein in deiner Tasche?«
Er wußte es also. Plötzlich strömte das Gefühl in Harrys Beine zurück. Er stolperte rückwärts.
»Sei kein Dummkopf«, schnarrte das Gesicht. »Rette besser dein eigenes Leben und schließ dich mir an… oder du wirst dasselbe Schicksal wie deine Eltern erleiden… Sie haben mich um Gnade angefleht, bevor sie gestorben sind… «
»LÜGNER!«, rief Harry plötzlich.
Quirrell ging rückwärts auf ihn zu, so daß Voldemort ihn im Auge behalten konnte. Das böse Gesicht lächelte jetzt.
»Wie rührend… «, zischte es. »Ich weiß Tapferkeit immer zu schätzen… Ja, Junge, deine Eltern waren tapfer… Ich habe deinen Vater zuerst getötet und er hat mir einen mutigen Kampf geliefert… aber deine Mutter hätte nicht sterben müssen… sie hat versucht dich zu schützen… Gib mir jetzt den Stein, wenn du nicht willst, daß sie umsonst gestorben ist.«
»NIEMALS!«
Harry sprang hinüber zur Flammentür, doch Voldemort schrie:»PACK IHN!«, und im nächsten Augenblick spürte Harry, wie Quirrells Hand sich um sein Handgelenk schloß. Sogleich schoß ein messerscharfer Schmerz durch Harrys Narbe; sein Kopf fühlte sich an, als wolle er entzweibersten; er schrie und kämpfte mit aller Kraft und zu seiner Überraschung ließ Quirrell ihn los. Der Schmerz in seinem Kopf ließ nach – fiebrig blickte er sich nach Quirrell um und sah ihn vor Schmerz zusammengekauert auf dem Boden sitzen und auf seine Finger starren – vor seinen Augen trieben sie blutige Blasen.
»PACK IHN! PACK IHN!«, kreischte Voldemort erneut.
Mit einem Hechtsprung riß Quirrell Harry von den Füßen; Harry fiel auf den Rücken, Quirrell war auf ihm, mit beiden Händen fest um seinen Hals – Harrys Narbe machte ihn fast blind vor Schmerz, doch er hörte, wie Quirrell laut aufschrie.
»Meister, ich kann ihn nicht festhalten – meine Hände – meine Hände«
Und obwohl Quirrell Harry mit den Knien zu Boden preßte, ließ er seinen Hals los und starrte entgeistert auf seine Handflächen – die, wie Harry sehen konnte, verbrannt waren und fleischig rot glänzten.
»Dann töte ihn, Dummkopf, und scher dich fort«, schrie Voldemort.
Quirrell hob die Hand, um einen tödlichen Fluch auszustoßen, doch Harry streckte unwillkürlich die Hand aus und preßte sie auf Quirrells Gesicht.
»AAAARRH!«
Quirrell rollte von ihm herunter, nun auch im Gesicht übersät mit Brandblasen, und jetzt wußte Harry: Quirrell konnte seine nackte Haut nicht berühren, ohne schreckliche Schmerzen zu leiden – seine einzige Chance war, Quirrell festzuhalten und ihm anhaltende Qualen zu bereiten, so daß er keinen Fluch aussprechen konnte.
Harry sprang auf die Füße, griff Quirrell am Arm und packte so fest zu, wie er konnte. Quirrell schrie und versuchte Harry abzuschütteln – der Schmerz in Harrys Kopf wurde immer heftiger – er konnte nichts mehr sehen – er konnte nur Quirrells schreckliche Schreie und Voldemorts Rufe hören:»TÖTE IHN! TÖTE IHN«- und auch andere Stimmen, vielleicht in seinem Kopf, die riefen:»Harry! Harry«
Er spürte, wie Quirrells Arm seinem Griff entwunden wurde, wußte, daß nun alles verloren war, und fiel ins Dunkel, tief… tief… tief…
Vor seinen Augen glitzerte etwas Goldenes. Der Schnatz! Er versuchte nach ihm zu greifen, doch seine Arme waren zu schwer. Er blinzelte. Es war gar nicht der Schnatz. Es war eine Brille. Wie merkwürdig. Er blinzelte wieder. Das lächelnde Gesicht von Albus Dumbledore tauchte verschwommen über ihm auf
»Guten Tag, Harry«, sagte Dumbledore.
Harry starrte ihn an. Dann kam die Erinnerung:»Sir! Der Stein! Es war Quirrell! Er hat den Stein! Sir, schnell -«
»Beruhige dich, mein junge, du bist nicht ganz auf der Höhe der Ereignisse«, sagte Dumbledore. »Quirrell hat den Stein nicht.«
»Wer hat ihn dann? Sir, ich -«
»Harry, bitte beruhige dich, oder Madam Pomfrey wirft mich am Ende noch hinaus.«
Harry schluckte und sah sich um. Er mußte im Krankenflügel sein. Er lag in einem Bett mit weißen Leintüchern und neben ihm stand ein Tisch, der aussah wie ein Marktstand voller Süßigkeiten.
»Gaben von deinen Freunden und Bewunderern«, sagte Dumbledore strahlend. »Was unten in den Kerkern zwischen dir und Professor Quirrell geschehen ist, ist zwar vollkommen geheim, doch natürlich weiß die ganze Schule davon. Ich glaube, deine Freunde, die Herren Fred und George Weasley, zeichnen verantwortlich für den Versuch, dir einen Toilettensitz zu schicken. Zweifellos dachten sie, es würde dich amüsieren. Madam Pomfrey jedoch meinte, er sei vielleicht nicht besonders hygienisch, und hat ihn beschlagnahmt.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Drei Tage. Mr. Ronald Weasley und Miss Granger werden sehr erleichtert sein, daß du wieder zu dir gekommen bist, sie waren höchst besorgt.«
»Aber, Sir, der Stein -«
»Wie ich sehe, läßt du dich nicht ablenken. Nun gut, der Stein. Professor Quirrell ist es nicht gelungen, dir den Stein abzunehmen. Ich bin rechtzeitig dazugekommen, um dies zu verhindern, obwohl du dich auch allein sehr gut geschlagen hast, muß ich sagen.«
»Sie waren da? Hat Hedwig Sie erreicht?«
»Wir müssen uns in der Luft gekreuzt haben. Kaum hatte ich London erreicht, war mir klar, daß ich eigentlich dort sein sollte, wo ich gerade hergekommen war. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um Quirrell von dir herunterzureißen.«
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