»GEH!«
Hermine wandte sich um und ging geradewegs durch das purpurne Feuer.
Harry holte tief Luft und nahm die kleinste Flasche in die Hand. Er wandte sich den schwarzen Flammen zu.
»Ich komme«, sagte er und leerte die kleine Flasche mit einem Zug.
Es war wirklich wie Eis, das seinen Körper durchströmte. Er stellte die Flasche zurück, nahm all seinen Mut zusammen und machte sich auf; er sah die schwarzen Flammen an seinem Körper hochzüngeln, doch er spürte sie nicht. Einen Moment lang konnte er nichts sehen außer dunklem Feuer, dann war er auf der anderen Seite, in der letzten Gruft.
Jemand war schon da, doch es war nicht Snape. Es war auch nicht Voldemort.
Der Mann mit den zwei Gesichtern
Es war Quirrell.
»Sie!«, stieß Harry hervor.
Quirrell lächelte. Kein Zucken war mehr in seinem Gesicht.
»Ja, ich«, sagte er gelassen. »Hab mir schon halb gedacht, daß ich Sie hier treffen würde, Potter.«
»Aber ich dachte – Snape -«
»Severus?« Quirrell lachte und es war nicht sein übliches zittrig schrilles Lachen, es war kalt und scharf. »ja, Severus scheint der richtige Mann dafür zu sein, nicht wahr? Recht nützlich, daß er umherschwirrt wie eine zu groß geratene Fledermaus. Wer würde neben ihm den a-a-armen st-stotternden P-Professor Quirrell verdächtigen?«
Harry konnte es nicht fassen. Das durfte einfach nicht wahr sein.
»Aber Snape hat versucht mich umzubringen!«
»Nein, nein, nein. Ich habe es getan. Ihre Freundin Miss Granger hat mich versehentlich umgerempelt, als sie beim Quidditch-Spiel zu Snape hinüberrannte, um ihn anzuzünden. Sie hat meinen Blickkontakt zu Ihnen unterbrochen. Ein paar Sekunden mehr und ich hätte sie von diesem Besen heruntergehabt. Ich hätte es schon vorher geschafft, wenn Snape nicht einen Gegenzauber gemurmelt hätte, um Sie zu retten.«
»Snape hat versucht mich zu retten?«
»Natürlich«, sagte Quirrell kühl. »Warum, glauben Sie, wollte er beim nächsten Spiel der Schiedsrichter sein? Er wollte dafür sorgen, daß ich es nicht noch einmal versuche. Wirklich eigenartig… wenn Dumbledore dabei ist, kann ich ohnehin nichts ausrichten. Alle anderen Lehrer dachten, Snape wolle verhindern, daß Gryffindor gewinnt, und damit hat er sich richtig unbeliebt gemacht… was für eine Zeitverschwendung, wenn ich Sie heute Nacht schließlich doch umbringe.«
Quirrell schnippte mit den Fingern. Aus der Luft peitschten Seile hervor, die sich fest um Harrys Körper wickelten.
»Ihre Neugier bringt Sie um Kopf und Kragen, Potter. Sie sind an Halloween in der Schule umhergeschlichen und sind auf mich gestoßen. Ich wollte mir ansehen, wie der Stein bewacht ist.«
»Sie haben den Troll hereingelassen?«
»Gewiß. Ich habe ein glückliches Händchen, wenn es um Trolle geht. Sie haben ja gesehen, was ich mit dem in der Kammer dort hinten angestellt habe. Nun, während alle andern umherliefen und ihn suchten, ging Snape, der mich schon im Verdacht hatte, leider geradewegs in den dritten Stock, um mir den Weg abzuschneiden – und mein Troll hat es nicht nur versäumt, Sie totzuschlagen, dieser dreiköpfige Hund hat es nicht einmal fertig gebracht, Snapes Bein ganz abzubeißen.
Und jetzt, Potter, warten Sie hier ganz ruhig. Ich muß mir diesen interessanten Spiegel näher ansehen.«
Erst jetzt erkannte Harry, was hinter Quirrell stand. Es war der Spiegel Nerhegeb.
»Dieser Spiegel ist der Schlüssel zum Stein«, murmelte Quirrell und klopfte suchend am Rahmen entlang. »Typisch Dumbledore, sich so etwas einfallen zu lassen… aber er ist in London…
bis er zurückkommt, bin ich längst über alle Berge… «
Harrys Gedanken drehten sich einzig darum, wie er Quirrell am Sprechen halten und ihn vom Spiegel ablenken konnte.
»Ich habe Sie und Snape im Wald gesehen -«, plapperte er hastig drauflos.
»Ja«, sagte Quirrell gleichmütig, während er um den Spiegel herumging, um sich die Rückseite anzusehen. »Da war er mir schon auf die Pelle gerückt und wollte wissen, wie weit ich gekommen war. Er hat mich die ganze Zeit über verdächtigt. Hat versucht mich einzuschüchtern – als ob er das könnte, wenn ich Lord Voldemort auf meiner Seite habe«
Quirrell kam hinter dem Spiegel hervor und sah begierig hinein.
»Ich sehe den Stein… Ich überreiche ihn meinem Meister… aber wo ist er?«
Harry drückte mit aller Kraft gegen seine Fesseln, doch die Seile gaben nicht nach. Er mußte Quirrell davon abhalten, seine ganze Aufmerksamkeit dem Spiegel zu widmen.
»Aber Snape kam mir immer so vor, als würde er mich richtig hassen.«
»Oh, das tut er auch«, sagte Quirrell nebenher,»Himmel, ja. Er und Ihr Vater waren zusammen in Hogwarts, haben Sie das nicht gewußt? Sie haben sich gegenseitig verabscheut. Aber er wollte nie, daß Sie sterben.«
»Aber vor ein paar Tagen hab ich Sie schluchzen gehört. Ich dachte, Snape würde Sie bedrohen… «
Zum ersten Mal huschte ein ängstliches Zucken über Quirrells Gesicht.
»Manchmal«, sagte er,»fällt es mir schwer, den Anweisungen meines Meisters zu folgen – er ist ein großer Zauberer und ich bin schwach -«
»Sie meinen, er war in diesem Klassenzimmer bei Ihnen?« Harry blieb der Mund offen.
»Er ist bei mir, wo immer ich bin«, sagte Quirrell leise. »Ich traf ihn bei meiner Reise um die Welt. Damals war ich noch ein einfältiger junger Mann, mit dem Kopf voll lächerlicher Vorstellungen über Gut und Böse. Lord Voldemort hat mir gezeigt, wie falsch ich dachte. Es gibt kein Gut und Böse, es gibt nur Macht, und jene, die zu schwach sind, um nach ihr zu streben… Seit damals bin ich sein treuer Diener, auch wenn ich ihn viele Male enttäuscht habe. Er mußte sehr streng mit mir sein.« Quirrell zitterte plötzlich. »Fehler vergibt er nicht so einfach. Als es mir nicht gelungen ist, den Stein aus Gringotts zu stehlen, war er äußerst mißvergnügt. Er hat mich bestraft… und beschlossen, mich näher im Auge zu behalten… «
Quirrells Stimme verlor sich. Harry fiel der Besuch in der Winkelgasse ein – wie konnte er nur so dußlig gewesen sein? An jenem Tag hatte er Quirrell dort gesehen und ihm im Tropfenden Kessel die Hand geschüttelt.
Quirrell fluchte leise vor sich hin.
»Ich verstehe nicht… ist der Stein im Innern des Spiegels? Sollte ich ihn zerschlagen?«
Harry raste der Kopf.
Was ich im Augenblick mehr als alles auf der Welt möchte, dachte er, ist, den Stein vor Quirrell zu finden. Wenn ich in den Spiegel schauen würde, müßte ich mich eigentlich dabei sehen, wie ich den Stein finde. Und das heißt, ich wüßte, wo er versteckt ist! Doch wie kann ich hineinsehen, ohne daß Quirrell bemerkt, was ich vorhabe?
Er versuchte sich ein wenig nach links zu bewegen, um vor das Glas zu kommen, ohne Quirrells Aufmerksamkeit zu erregen, doch die Seile waren zu fest um seine Knöchel gespannt: er stolperte und fiel zu Boden. Quirrell achtete nicht auf ihn. Er sprach immer noch mit sich selbst.
»Was tut dieser Spiegel? Wie wirkt er? Hilf mir, Meister!«
Und zu Harrys Entsetzen antwortete eine Stimme und diese Stimme schien von Quirrell selbst zu kommen.
»Nutze den jungen… Nutze den jungen… «
Quirrell drehte sich zu Harry um.
»Ja, Potter, komm her«
Er klatschte einmal in die Hände und Harrys Fesseln fielen von ihm ab. Langsam kam Harry auf die Beine.
»Komm her«, wiederholte Quirrell. »Schau in den Spiegel und sag mir, was du siehst.«
Harry trat zu ihm.
»Ich muß lügen«, dachte er verzweifelt. »Ich muß hineinsehen und ihn darüber belügen, was ich sehe, das ist alles.«
Quirrell stellte sich dicht hinter ihn. Harry atmete den merkwürdigen Geruch ein, der von Quirrells Turban auszugehen schien. Er schloß die Augen, trat vor den Spiegel und öffnete sie wieder.
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