»V für Vertrauensschüler! Zieh ihn an, Percy, los komm schon, sogar Harry hat einen gekriegt.«
»Ich – will – nicht -«, sagte Percy halb erstickt, während die Zwillinge ihm den Pullover über den Kopf zwängten und dabei seine Brille verbogen.
»Und du hockst dich heute nicht zu den Vertrauensschülern«, sagte George. »Weihnachten verbringt man mit der Familie.«
Sie hatten Percys Arme nicht durch die Ärmel des Pullovers gesteckt, und so gefesselt nahmen sie ihn nun auf die Schultern und marschierten mit ihm hinaus.
Harry hatte noch nie in seinem Leben ein solches Weihnachtsmahl verspeist. Hundert fette gebratene Truthähne, Berge von Brat- und Pellkartoffeln, Platten voll niedlicher Cocktailwürstchen, Schüsseln voll Buttererbsen, Silberterrinen voll dicken, sahnigen Bratensafts und Preiselbeersauce – und, über den Tisch verteilt, stapelweise Zauber-Knallbonbons. Diese phantastischen Knallbonbons waren nichts gegen die schwächlichen der Muggel, wie sie die Dursleys kauften, mit dem kleinen Plastikspielkram und den knittrigen Papierhütchen. Harry zog mit Fred an einem Zauber-Knallbonbon, und es knallte nicht nur, sondern ging los wie eine Kanone und hüllte sie in eine Wolke blauen Rauchs, während aus dem Innern der Hut eines Admirals und mehrere lebende weiße Mäuse herausschossen. Drüben am Hohen Tisch hatte Dumbledore seinen spitzen Zaubererhut gegen eine geblümte Pudelmütze getauscht und kicherte fröhlich über einen Witz, den ihm Professor Flitwick soeben vorgelesen hatte.
Dem Truthahn folgte farbenprächtiger Plumpudding. Percy brach sich fast die Zähne an einem Silbersickel aus, der in seiner Portion versteckt war. Harry beobachtete, wie Hagrid nach mehr Wein verlangte und sein Gesicht immer röter wurde, bis er schließlich Professor McGonagall auf die Wange küßte, die, wie Harry verdutzt feststellte, unter ihrem leicht verrutschten Spitzhut errötete und anfing zu kichern.
Als Harry schließlich vom Tisch aufstand, war er beladen mit einer Unmenge Sachen aus den Knallbonbons, darunter ein Dutzend Leuchtballons, die nie platzten, ein »Züchte eine eigenen Warzen«-Biokasten und ein neues Zauberschachspiel. Die weißen Mäuse waren verschwunden und Harry hatte das unangenehme Gefühl, daß sie als Mrs. Norris' Weihnachtsschmaus enden würden.
Harry und die Weasleys verbrachten einen glücklichen Nachmittag mit einer wilden Schneeballschlacht draußen auf dem Schulgelände. Mit glühenden Wangen, verschwitzt und schwer atmend, kehrten sie ans Kaminfeuer in ihrem Gemeinschaftsraum zurück, wo Harry sein neues Schachspiel mit einer haarsträubenden Niederlage gegen Ron einweihte. Er hätte vielleicht nicht so kläglich verloren, vermutete er, wenn Percy nicht so angestrengt versucht hätte, ihm zu helfen.
Nach dem Tee – es gab Brote mit kaltem Braten, Pfannkuchen, Biskuits und Weihnachtskuchen – fühlten sich alle zu voll gestopft und müde, um noch viel vor dem Schlafengehen anzufangen. Sie sahen nur noch Percy zu, wie er Fred und George durch den ganzen Gryffindor-Turm nachjagte, weil sie sein Vertrauensschüler-Abzeichen geklaut hatten.
Es war Harrys schönstes Weihnachten gewesen. Doch den ganzen Tag über war ihm etwas im Hinterkopf herumgeschwirrt. Erst als er im Bett lag, hatte er die Ruhe, darüber nachzudenken: Es war der Umhang, der unsichtbar machte, und die Frage, wer ihn wohl geschickt hatte.
Ron, voll gestopft mit Braten und Kuchen und mit nichts weiter Geheimnisvollem beschäftigt, schlief ein, sobald er die Vorhänge seines Himmelbetts zugezogen hatte. Harry drehte sich auf die Seite und zog den Umhang unter dem Bett hervor.
Das war von seinem Vater… der Umhang seines Vaters. Er ließ den Stoff durch die Hände gleiten, fließender als Seide, leichter als Luft. Gebrauche ihn klug, hatte es auf dem Zettel geheißen.
Er mußte es versuchen – jetzt. Er schlüpfte aus dem Bett und hüllte sich in den Umhang. Wo eben noch seine Füße waren, sah er jetzt nur noch das Mondlicht und Schatten. Ihm war merkwürdig zumute.
Gebrauche ihn klug.
Plötzlich war Harry hellwach. In diesem Umhang stand ihm ganz Hogwarts offen. Begeisterung durchströmte ihn. Er konnte überallhin, überall, und Filch würde es nie herausfinden.
Ron grunzte im Schlaf Sollte Harry ihn wecken? Etwas hielt ihn zurück – der Umhang seines Vaters -, er spürte, daß er diesmal, dieses erste Mal, allein mit ihm sein wollte.
Er stahl sich aus dem Schlafsaal, die Treppe hinunter, durch den Aufenthaltsraum und kletterte durch das Loch hinter dem Porträt.
»Wer da?«, quakte die fette Dame. Harry sagte nichts. Rasch ging er den Korridor entlang.
Wo sollte er hin? Mit rasend pochendem Herzen hielt er inne und dachte nach. Und dann fiel es ihm ein. Die verbotene Abteilung in der Bibliothek. Dort konnte er lesen, solange er wollte, solange er mußte, um herauszufinden, wer Flamel war. Den Tarnumhang eng um sich schlingend
ging er weiter.
In der Bibliothek herrschte rabenschwarze Nacht. Harry war gruslig zumute. Er zündete eine Laterne an, um sich den Weg durch die Buchregale zu leuchten. Die Laterne schien in der Luft zu schweben, und obwohl Harry spürte, daß er sie in der Hand trug, ließ ihm der Anblick Schauer über den Rücken laufen.
Die verbotene Abteilung lag ganz hinten in der Bibliothek. Er stieg umsichtig über die Kordel, die diesen Bereich von den andern trennte, und hielt seine Laterne hoch, um die Titel auf den Buchrücken zu lesen.
Sie sagten ihm nicht viel. Die abblätternden und verblassenden Goldlettern bildeten Wörter in Sprachen, die Harry nicht verstand. Manche Bücher hatten gar keinen Titel. Auf einem Buch war ein dunkler Fleck, der Blut schrecklich ähnlich sah. Harry sträubten sich die Nackenhaare. Vielleicht bildete er es sich nur ein, vielleicht auch nicht, aber er glaubte, von den Büchern her ein leises Flüstern zu vernehmen, als ob sie wüßten, daß jemand hier war, der nicht hier sein durfte.
Irgendwo mußte er anfangen. Er stellte die Laterne vorsichtig auf den Boden und suchte entlang der untersten Regalreihe nach einem viel versprechend aussehenden Buch. Ein großer schwarz-silberner Band fiel ihm ins Auge. Er zog das Buch mühsam heraus, denn es war sehr schwer, setzte es mit dem Rücken auf seine Knie und klappte es auf
Ein durchdringender Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, durchbrach die Stille – das Buch schrie! Harry schlug es zu, doch es schrie immer weiter, ununterbrochen, in einem hohen und trommelfellzerreißenden Ton. Er stolperte rückwärts und stieß seine Laterne uni, die sofort ausging. In panischer Angst hörte er Schritte den Gang draußen entlangkommen – er stopfte das schreiende Buch wieder ins Regal und rannte davon. Just an der Tür traf er auf Filch. Filchs blasse, wirre Augen sahen durch ihn hindurch und Harry wich vor Filchs ausgestrecktem Arm zur Seite und rannte weiter, den Korridor hinunter, die Schreie des Buches immer noch in den Ohren klingend.
Vor einer großen Rüstung erstarrte er. Er war so überstürzt aus der Bibliothek geflohen, daß er nicht darauf geachtet hatte, wo er hinlief Um ihn her war es vollkommen dunkel, und vielleicht wußte er deshalb nicht, wo er sich befand. Eine Rüstung stand in der Nähe der Küchen, das wußte er, doch er mußte fünf Stockwerke darüber sein.
»Sie haben mich gebeten, sofort zu ihnen zu kommen, Herr Professor, wenn jemand nachts umherstreift, und jemand war in der Bibliothek – in der verbotenen Abteilung.«
Harry spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht strömte. Wo immer er auch war, Filch mußte eine Abkürzung kennen, denn seine weiche, ölige Stimme kam näher, und zu seinem Entsetzen war es Snape, der antwortete:
»Die verbotene Abteilung? Nun, dann können sie nicht weit sein, die kriegen wir schon.«
Als Filch und Snape vor ihm um die Ecke bogen, gefror Harry zu einem Eiszapfen. Natürlich konnten sie ihn nicht sehen, doch der Korridor war eng, und wenn sie näher kämen, würden sie auf ihn prallen – trotz des Umhangs war er ja immer noch aus Fleisch und Blut.
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