»Dann bringe man kein Wasser und keine Nahrung mehr. Die Fackel kann auch ausgehen.«
Kossil verbeugte sich. »Und was macht man mit ihnen, wenn sie tot sind?«
»Duby und Vahto können sie in dem großen Gewölbe des unteren Grabes verscharren«, sagte Arha. Ihre Stimme wurde schrill, und sie redete schnell. »Es muß in der Dunkelheit getan werden. Meine Gebieter werden die Körper verzehren.«
»Es wird geschehen, wie Sie wünschen.«
»Ist es gut so, Kossil?«
»Ja, es ist gut so.«
»Dann laß uns gehen«, sagte Arha, und ihre Stimme klang plötzlich ganz schrill. Sie wandte sich um und eilte durch dieHolztür aus dem Kettenraum in die Schwärze des Ganges. Es schien ihr dort so friedlich und geruhsam zu sein, wie in einer sternenlosen Nacht, ohne Sicht, ohne Licht, ohne Leben. Sie stürzte sich in die reine Dunkelheit und bewegte sich vorwärts wie ein Schwimmer im Wasser. Kossil, schwerfällig und schweratmend, keuchte hinterher so schnell sie konnte, doch sie fiel immer weiter zurück. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, zählte Arha die ausgelassenen Öffnungen, schlug die richtige Richtung ein, der sie gefolgt waren, ging das Riesengewölbe entlang und kroch, tief gebeugt, die letzte Strecke durch den niederen Gang zur geschlossenen Tür im Fels. Dort hockte sie sich nieder und tastete nach dem langen Schlüssel, der am Ring an ihrer Taille hing. Sie fand ihn, aber das Schlüsselloch fand sie nicht. Auch nicht der kleinste Lichtstrahl war an der unsichtbaren Wand direkt vor ihrem Gesicht wahrnehmbar. Ihre Finger fühlten und suchten nach Schloß, Riegel oder Klinke, doch sie fanden nichts. Wo war das Schlüsselloch? Wie kam sie hier wieder heraus?
»Herrin!«
Kossils Stimme, durch Echos verstärkt, zischte und dröhnte weit hinter ihr.
»Herrin, die Tür kann nicht von innen geöffnet werden. Es gibt keinen Ausgang, keine Rückkehr!«
Arha preßte sich gegen den Fels. Sie erwiderte nichts.
»Arha!«
»Ich bin hier.«
»Komm!«
Sie näherte sich Kossil auf Händen und Füßen, wie ein Hund, bis sie ihren Rock zu fassen bekam.
»Rechts! Beeil dich! Ich kann hier nicht bleiben. Ich gehöre nicht hierher. Folge mir!«
Arha erhob sich und hielt sich an Kossil fest. Sie bewegten sich vorwärts und folgten der seltsam gemeißelten, reliefgeschmückten Wand des Gewölbes bis zu einer Öffnung in der Schwärze. Sie gingen aufwärts, durch Gänge und Stufen hinauf. Arha hielt sich immer am Umhang der Priesterin fest. Ihre Augen waren fest geschlossen.
Licht war vor ihr, schien rot durch ihre Augenlider. Sie dachte, daß sie sich wieder im fackelbeleuchteten Kettenraum befände, und preßte ihre Augen zusammen. Doch die Luft roch süßlich, trocken und etwas moderig; es war ein vertrauter Geruch. Sie ließ Kossils Umhang los und machte ihre Augen auf. Über ihr war eine offene Falltür. Sie kletterte hinauf, Kossil folgend. Die Tür öffnete sich in einen Raum, den sie sehr wohl kannte. Eine kleine, aus Stein gebaute Zelle, in der sich einige Truhen und eiserne Kästen befanden, einer der unzähligen kleinen Räume hinter der Thronhalle. Tageslicht fiel grau und schwach vom Korridor herein, der vor der Tür lag.
»Die andere Tür, die Gefängnistür, führt nur hinein, aber nicht hinaus. Dies hier ist der einzige Ausgang. Weder Thar noch ich kennen einen anderen Ausgang. Wenn es noch einen gibt, so muß es meine Herrin wissen. Aber ich glaube nicht, daß es noch einen gibt.« Kossils Stimme klang noch immer gepreßt, und Widerwille lag darin. Ihr großes Gesicht unter der Kapuze war bleich und feucht vom Schweiß.
»Ich kann mich nicht mehr an die Abzweigungen erinnern, die hierher führen …«
»Ich werde sie meiner Herrin aufzählen. Aber nur dies eine Mal. Das nächste Mal muß sie sich selbst daran erinnern. Ich komme nicht wieder mit hierher, ich gehöre nicht hierher. Meine Herrin muß allein gehen.«
Arha nickte. Sie schaute hinauf ins Gesicht der alten Frau, und es schien ihr einen seltsamen Anblick zu bieten, bleich, mit kaum unterdrückter Furcht, und doch triumphierend, als genieße sie Arhas Schwäche.
»Das nächste Mal gehe ich allein«, sagte Arha und versuchte sich von Kossil abzuwenden, doch ihre Beine versagten ihr, und die Zelle drehte sich vor ihren Augen. Sie fiel in Ohnmacht, ein kleines, schwarzes Bündel, vor den Füßen der Priesterin.
»Du wirst es lernen«, sagte Kossil und atmete schwer, ohne sich zu rühren. »Du wirst es lernen.«
Arha war ein paar Tage lang krank. Man behandelte sie, als ob sie Fieber hätte. Sie lag im Bett oder saß in der warmen Herbstsonne auf der Veranda des Kleinhauses und blickte hinüber auf die Berge im Westen. Sie fühlte sich schwach und kam sich sehr dumm vor. Sie mußte immer wieder an das gleiche denken: Sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war. Es war kein Wachtposten an der Gräbermauer aufgestellt worden, und sie wußte, daß sie es nie mehr wagen würde, Kossil darum zu bitten. Es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn sie Kossil nie wieder hätte sehen müssen, nie mehr. Denn sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war.
Oftmals, wenn sie in der warmen Sonne saß, malte sie sich aus, wie sie sich das nächste Mal dort unten in der Dunkelheit unter dem Hügel verhalten würde. Oft stellte sie sich vor, welche Todesart sie für die nächste Gruppe Gefangener anordnen würde, eine ausgefallenere ganz gewiß, eine, die dem Ritual des Leeren Thrones mehr entsprechen würde.
In jeder Nacht wachte sie in der Dunkelheit auf und hörte sich schreien: »Sie sind noch nicht tot! Sie sterben noch!«
Sie hatte viele Träume. In einem Traum mußte sie Essen kochen, Riesentöpfe voll schmackhaftem Brei, die sie in ein dunkles Loch im Boden schüttete. In einem anderen mußte sie einen Behälter voll Wasser, es war ein großes Messingbecken voll, durch die Dunkelheit zu jemandem hintragen, der durstig war. Aber sie konnte diesen Menschen nicht erreichen. Sie wachte auf und war selbst durstig, aber sie stand nicht auf, um zu trinken. Sie blieb auf ihrem Bett in dem Raum ohne Fenster liegen. Ihre Augen waren weit offen.
Eines Morgens kam Penthe, um sie zu besuchen. Arha sah sie von der Veranda des Kleinhauses aus näher kommen, mit sorgloser, unbekümmerter Miene, als habe sie der Zufall gerade hierhergeführt. Hätte Arha sie nichtangesprochen, so wäre sie die Stufen nicht heraufgestiegen. Doch Arha war einsam und redete sie an.
Penthe sank auf ein Knie nieder vor Arha, wie es alle vor der einen Priesterin tun mußten, und ließ sich dann auf eine Stufe unterhalb von Arha plumpsen. »Puhhh!« Sie stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. Inzwischen war sie ziemlich groß und rundlich geworden, und wenn sie sich viel bewegte, wurde sie immer so rötlich wie eine Kirsche. Auch jetzt war sie ganz rot vom Laufen.
»Ich habe gehört, daß du krank bist. Ich habe dir ein paar Äpfel aufgehoben.« Sie zog plötzlich ein Binsennetz mit einem halben Dutzend schöner gelber Äpfel unter ihrem weiten schwarzen Umhang hervor. Sie war inzwischen in den Dienst des Gottkönigs aufgenommen worden und diente in seinem Tempel unter Kossil, aber sie war noch keine Priesterin und mußte noch immer Unterricht nehmen und Arbeiten mit den anderen Novizen zusammen verrichten. »Poppie und ich mußten dieses Jahr die Äpfel sortieren, und ich habe die allerbesten aufgehoben. Die guten tun sie ja immer trocknen — natürlich weil sie sich am besten halten. Aber mir tut es immer leid um sie. Sind die nicht schön?«
Arha strich über die hellgoldene, seidige Haut der Äpfel und schaute auf die Ästchen, an denen sich noch ein paar braune Blätter festhielten: »Doch, die sind schön.«
»Iß doch einen!« sagte Penthe.
»Jetzt nicht. Iß du einen.«
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