»Ein viel größerer und viel älterer Schatz. Will meine Herrin ihn anschauen?«
»Ja.«
»Nur sie kann dort eintreten, wo sich die Schätze der Gräber befinden. Ihre Diener können das Labyrinth betreten, aber nicht die Schatzkammer. Selbst Manan würde den Zorn der dunklen Mächte erwecken und das Labyrinth nicht wieder lebendig verlassen. Dorthin muß meine Herrin immer allein gehen. Ich weiß, wo sich der große Schatz befindet. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie gestorben ist, hat mir meine Herrin den Weg beschrieben, damit ich ihn im Gedächtnis behalte und ihn ihr wieder vorsage, wenn sie zurückkehrt. Ich kann den Weg beschreiben, der vom Bemalten Raum ausgeht, und der Schlüssel zum Schatz ist dieser da, der kleine silberne, mit dem Drachen am Griff. Aber meine Herrin muß allein gehen.«
»Wie erreicht man die Schatzkammer?«
Thar beschrieb ihr den Weg, und sie erinnerte sich wieder, wie sie sich an alles erinnerte, das man ihr sagte. Aber sie ging nicht zu dem großen Schatz der Gräber. Etwas hielt sie zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als sei sie noch nicht bereit dazu, als fehle ihrem Wissen noch etwas. Vielleicht wollte sie auch nur etwas in Reserve behalten, etwas, worauf sie sich freuen konnte, das die endlosen, unterirdischen Gänge, die im Dunkel lagen und immer nur an eine leere Wand oder in eine verstaubte leere Kammer führten, in ein interessanteres Licht rückten. Sie beschloß, noch eine Weile zu warten, bevor sie den Schatz aufsuchte.
Und zudem — hatte sie nicht alles schon einmal gesehen?
Es berührte sie immer noch seltsam, wenn Thar oder Kossil von Dingen sprachen, die sie angeblich gesehen oder gesagt hatte, bevor sie starb. Sie wußte, daß sie wirklich gestorben war und zur Stunde ihres Todes in einem anderen Körper wiedergeboren wurde: dies hatte sich nicht nur einmal, vor fünfzehn Jahren, zugetragen, sondern auch vor fünfzig Jahren und davor und wieder davor, durch die Generationen hindurch bis zum Beginn der Zeitrechnung, bis zu der Zeit, als das Labyrinth gebaut und die Steine errichtet worden waren und die Erste Priesterin der Namenlosen an dieser Stätte waltete und vor dem Leeren Thron tanzte. Alle diese Leben waren im Grunde nur ein einziges Leben, und sie war ein Teil davon. Sie war die Erste Priesterin. Alle Menschen werden wiedergeboren, aber nur sie, Arha, wird immer wieder als die gleiche wiedergeboren. Hunderte von Malen hatte sie die Gänge und Windungen des Labyrinths kennengelernt und war zu dem verborgenen Raum gelangt.
Manchmal kam es ihr vor, als erinnere sie sich daran. Die dunklen Stätten unter dem Hügel waren ihr so vertraut, als seien sie nicht nur ihr Reich, sondern auch ihr Heim. Wenn sie die betäubenden Dämpfe der Kräuter einatmete und in der dunklen, mondlosen Nacht tanzte, fühlte sie, wie sie immer schwereloser wurde, wie ihr Körper von einem anderen Willen geleitet wurde und sich bewegte; sie tanzte dann durch die Jahrhunderte, barfuß, schwarzgekleidet — und sie wußte, daß dieser Tanz nie ein Ende genommen hatte. Doch es berührte sie immer wieder seltsam, wenn Thar sagte: »Bevor meine Herrin starb, sagte sie mir …«
Einmal hatte sie gefragt: »Wer waren diese Männer, die kamen, um die Gräber zu berauben? War es je einem gelungen?« Die Vorstellung von Raub faszinierte sie, aber es kam ihr gleichzeitig auch unwahrscheinlich vor. Wie konnte es einem Menschen gelingen, unbemerkt an die Stätte zu gelangen? Pilger gab es nur sehr wenige, noch weniger als Gefangene. Ab und zu wurden neue Novizen oder Sklaven von den weniger bekannten Tempeln in den vier Landen angefordert, oder ein paar Leute kamen und brachten Gold oder seltene Spezereien als Gabe für einen der Tempel. Sonst kam niemand. Nie kam jemand aus Zufall hierher oder zur Besichtigung oder um etwas zu kaufen und zu verkaufen oder um zu stehlen. Leute kamen nur auf Bestellung hierher. Arha wußte nicht einmal, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, ob es zehn Meilen waren oder mehr; und die nächste Stadt war zudem noch klein. Die Verteidigung und Bewachung der Stätte bestand in ihrer geographischen Lage, in ihrer Isolation, in ihrer Leere. Sollte irgend jemand versuchen, ungesehen die Wüste, die sie ringsum umgab, zu durchqueren, so waren seine Chancen, nicht gesehen zu werden, ungefähr so groß wie die eines schwarzen Schafes, das sich auf ein Schneefeld wagt.
Arha war mit Thar und Kossil zusammen, was immer häufiger geschah, wenn sie sich nicht im Kleinhaus oder unter dem Hügel aufhielt. Es war ein kalter Aprilabend, draußen stürmte es. Sie saßen in Kossils Zimmer, einem kleinen Raum hinter dem Tempel des Gottkönigs, um ein winziges Feuer aus getrocknetem Salbeikraut herum. Vor der Tür, im Gang, saßen Manan und Duby und spielten ein Spiel mit Stäben und Spielmarken, bei dem man ein Bündel Stäbe hochwirft und versucht, so viel Stäbe wie möglich mit dem Handrücken aufzufangen. Manan und Arha spielten es ab und zu heimlich, wenn sie sich allein im Innenhof des Kleinhauses befanden. Das Rascheln der Stäbe, das Murmeln der Stimmen, die Triumph oder Enttäuschung ausdrückten, und das leise Prasseln des Feuers waren die einzigen Geräusche, die man vernehmen konnte, wenn die drei Priesterinnen schwiegen. Die tiefe Stille der Wüstennacht lag überall außerhalb der Mauern. Böige Winde brachten hin und wieder kurze, heftige Regenschauer.
»Viele haben versucht, die Gräber zu berauben«, sagte Thar. »Aber das ist nun schon lange her, und es ist keinem gelungen.« Obwohl sie von Natur aus schweigsam war, so war sie doch gelegentlich bereit, eine Geschichte zu erzählen, besonders, wenn sie diese mit einer Belehrung für Arha verknüpfen konnte. An jenem Abend sah es so aus, als würde eine Geschichte zum Besten gegeben werden.
»Wie konnten sie es wagen?«
»Sie haben es gewagt«, sagte Kossil. »Hexenmeister, Zauberer der Innenländer waren es. Das trug sich zu, noch bevor der Gottkönig über das Kargadreich herrschte, damals waren wir noch nicht so mächtig. Die Zauberer kamen vom Westen nach Karego-At und Atuan gesegelt, plünderten die Städte an der Küste und verwüsteten die Bauernhöfe, selbst bis in die heilige Stadt Awabad sind sie gedrungen. Sie behaupteten, daß sie nur gekommen seien, um Drachen zu töten, aber in Wirklichkeit blieben sie hier, um Städte und Tempel auszuplündern.«
»Und ihre großen Helden kamen zu uns, um die Schärfe ihrer Schwerter zu erproben«, sagte Thar, »und um ihre ruchlosen Zaubersprüche zu wirken. Einer von ihnen, ein mächtiger Zauberer und ein Drachenfürst, der größte unter ihnen, ließ hier sein Leben. Das trug sich vor langer, langer Zeit zu, aber die Geschichte lebt weiter — und nicht nur hier. Der Name des Zauberers war Erreth-Akbe, und er war ein König und ein Zauberer des Westens. Er kam hierher, und in Awabad verbündete er sich mit einigen rebellierenden Fürsten des Landes, und dann kam es zu einem Kampf mit dem Hohepriester des höchsten Tempels der Zwillingsgötter. Sie haben lange miteinander gekämpft, Zauberkraft gegen Götterblitze, und der ganze Tempel und viel ringsum wurde zerstört. Aber endlich zerbrach der Hohepriester den Zauberstab von Erreth-Akbe und das Amulett, das ihm Macht verlieh, und damit hatte er ihn besiegt. Aber er entfloh aus der Stadt und aus Kargad und flüchtete über die Erdsee, bis er in den fernen Westen kam; dort wurde er von einem Drachen getötet, denn seine Macht war dahin. Von diesem Tag an nimmt die Macht und Stärke der Innenländer ständig ab. Der Hohepriester hieß Intathin, er war der erste aus dem Hause Tarb, das, in Erfüllung der Prophezeiungen und nach Ablauf der Jahrhunderte, die Priesterkönige von Karego-At hervorgebracht hat, von denen die Gottkönige des Kargadreiches abstammen. Man kann also sagen, daß beginnend mit Intathin die Größe und Macht des Kargadreiches gewachsen ist. Diejenigen, die gekommen sind, um die Gräber zu plündern, das waren Zauberer, die immer und immer wieder versuchten, das zerbrochene Amulett von Erreth-Akbe zurückzugewinnen. Aber es ist noch immer hier, wo es vom Hohepriester zur Aufbewahrung und zur Sicherheit hergebracht wurde. Und ihre Gebeine sind auch noch da …« Thar deutete auf den Boden zu ihren Füßen.
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