Ich musste mit ihr reden, aber ich war noch nicht so weit. Also betrachtete ich die anderen Leute im Zimmer. Einige erkannte ich als bekannte oder mutmaßliche Anhänger der Null-Toleranz-Fraktion - schwerlich eine Überraschung, dass sie hier anzutreffen waren. Ihre einzige Chance, erneut Einfluss, wenn nicht sogar Kontrolle über die Familie zu gewinnen, bestand darin, die Matriarchin zu überreden, sich ihrer Sache anzuschließen. Ich nickte ein paar vertrauten Gesichtern ruhig zu und hielt dann jäh inne, als ich ein sehr vertrautes Gesicht sah.
»Penny?«, sagte ich.
»Eddie«, sagte sie mit ruhiger, kühler und völlig neutraler Stimme.
»Schön dich wiederzusehen, Penny!«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen, Eddie.«
Was ganz normal war. Penny war meine offizielle Kontaktperson in der Familie gewesen, als ich noch Agent im Außendienst war. Nach jeder Mission lieferte ich ihr meinen Bericht ab, und sie leitete alle Instruktionen oder Informationen an mich weiter, die die Familie für nötig erachtete. Ich habe Penny immer gemocht. Sie hat mir nie etwas durchgehen lassen. Penny Drood war eine hochgewachsene, kühle Blonde in einem eng anliegenden weißen Pullover über ebenso eng anliegenden grauen Hosen. Mit ihren kühlen blauen Augen und ihren blassrosa Lippen war Penny süß, gescheit und sexy und kultiviert wie ein sehr trockener Martini. Sie war ungefähr in meinem Alter, aber ich hatte keine Erinnerung aus Schultagen an sie. Wir waren viele damals.
Auch nach zehn Jahren als meine Kontaktperson hätte ich Ihnen nicht sagen können, ob sie mich mochte oder nicht. Derartige Informationen teilte Penny nie mit jemandem.
»In Ordnung, Leute!«, sagte ich laut. »Nett, dass ihr reingeschaut habt, aber, Mensch, seht nur, wie spät es geworden ist - ihr müsst jetzt gehen! Die Besuchszeit ist vorbei, bis ich hier fertig bin. Hoffentlich seid ihr intelligenter als die Menge draußen, sodass wir auf die üblichen Drohungen verzichten können. Schön, schön. Begebt euch zur Tür, Einerreihe, kein Schieben oder Schubsen, oder es werden vor der Schlafenszeit noch Tränen fließen!«
Mit erhobenen Häuptern und in die Luft gereckten Nasen verließen sie das Zimmer, wobei sie mich so gründlich ignorierten, wie sie konnten. Penny machte Anstalten, ihnen zu folgen, aber ich hielt sie mit einer Gebärde auf.
»Bleib noch einen Augenblick da, Penny! Ich will mit dir reden.«
»Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich mit dir reden will?«
»Weil du, anders als die meisten in diesem Verein, tatsächlich ein Gehirn in deinem Kopf hast. Weil dir immer das Wohl der Familie am Herzen gelegen hat. Und weil das, was ich zu sagen habe, direkt mit dem Fortbestand der Drood-Familie zu tun hat. Interessiert?«
»Möglicherweise. Du hast immer den Klang deiner eigenen Stimme zu sehr gemocht, Eddie.«
»Du verletzt mich zutiefst!«
»Ich stelle fest, dass du es nicht leugnest.«
»Wie geht es der Matriarchin?«, wechselte ich schnell und geschickt das Thema.
»Den Umständen entsprechend gut.«
»Und Alistair?«
»Was glaubst du denn?«
Es war offensichtlich, dass sie nicht einen Zentimeter nachgeben würde, deshalb bedeutete ich ihr zu bleiben, wo sie war, während ich hinüberging und mich neben die Matriarchin stellte. Ich wartete darauf, dass sie mir wenigstens einen flüchtigen Blick zuwürfe, aber sie löffelte einfach weiter Suppe in die dunkle Öffnung in Alistairs Verbänden. Ich konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass er sie schluckte. Wäre nicht das leichte, aber unverkennbare Heben und Senken seines Brustkorbs gewesen, ich hätte mich gefragt, ob er nicht vielleicht tot sei und niemand es übers Herz gebracht hatte, Martha das zu sagen.
»Hallo, Großmutter«, sagte ich schließlich. »Ich wäre schon früher gekommen, aber ich hatte sehr viel zu tun. Arbeit für die Familie. Wie geht es ihm?«
»Was glaubst du denn?«, entgegnete Martha Drood mit ausdrucksloser Stimme und drehte sich immer noch nicht um. Sie klang müde, aber immer noch kalt wie Stahl, scharf wie eine Rasierklinge. »Sieh ihn dir an! Verstümmelt. Verkrüppelt. Entstellt. Mein wunderschöner Alistair! Und das hat er alles dir zu verdanken, Edwin.«
»Wie hat er bloß die Salem Special in die Finger gekriegt?«, fragte ich. »Eine schreckliche Waffe; wir hätten sie schon längst zerstören sollen. Und Alistair hat nie etwas von Waffen verstanden; also muss sie ihm jemand gegeben haben. Hast du ihm die Pistole gegeben, Großmutter, damit er sie gegen meine Molly gebraucht?«
Zum ersten Mal sah sie mich an, und ihre Miene war kalt und unnachgiebig wie Stein. »Natürlich nicht! Alistair war nie ein Kämpfer; er hat Feuerwaffen immer verabscheut. Das war eines der Dinge, die ich am meisten an ihm liebte. Nein, er wollte mich einfach nur beschützen. Also hat er Initiative gezeigt, zum ersten Mal in seinem Leben. Er muss gewusst haben, wie gefährlich die Salem Special war, aber sein einziger Gedanke war … dass ich in Gefahr schwebte.«
»So hat sich letzten Endes herausgestellt, dass du doch recht gehabt hast, was ihn betrifft, Großmutter«, sagte ich. »Er war ein guter Mann und treu, wenn's darauf ankam. Aus diesem Grund hast du ihm auch nie das Geheimnis der goldenen Torques eröffnet. Hast ihm nie von den Generationen von Drood-Babys erzählt, die dem Herzen geopfert wurden, damit wir die goldene Rüstung tragen konnten. Du hast es ihm nie erzählt, weil du wusstest, ein guter Mann wie er hätte eine solche Abscheulichkeit niemals geduldet!«
»Er brauchte es nicht zu wissen! Es war meine Bürde, nicht seine! Und ich tat, was getan werden musste, um die Familie stark zu halten. Stärker als alle Feinde, die uns in einem einzigen Moment heruntergezogen hätten, wenn wir je gestolpert wären!«
»Martha?«
Alistairs bandagierter Kopf drehte sich langsam, blindlings, hin und her, aufgeschreckt von ihrer gehobenen Stimme, oder vielleicht auch nur, weil die Suppenzufuhr aufgehört hatte. Seine Stimme war nur ein leichter Hauch. »Ist jemand hier, Martha?«
»Es ist alles in Ordnung, Liebling!«, sagte Martha rasch. Sie schickte sich an, ihm die Schulter zu tätscheln, und hielt dann inne, aus Angst ihm wehzutun. »Sei jetzt wieder ruhig, Schatz. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«
»Mir ist kalt. Und mein Kopf tut weh. Ist jemand hier?«
»Es ist nur Edwin.«
»Er ist wieder da, um uns zu besuchen?«
»Ja, Liebling. Bleib du schön ruhig liegen, dann bekommst du gleich noch mehr gute Suppe.« Sie sah mich an. »Er erinnert sich an nichts mehr. Wahrscheinlich ist es am besten so. Außer … dass er sich überhaupt an kaum noch etwas zu erinnern scheint. Er weiß, wer er ist, und er weiß, wer ich bin, und das war es so ziemlich. Vielleicht wird er eines Tages sogar das vergessen haben, um zu vergessen, was du ihm angetan hast. Der Teufel soll dich holen, Edwin, was hast du hier verloren? Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet? Du hast meinen Sohn James umgebracht! Den Allerbesten von uns - und ein besserer Mann, als du es je sein wirst! Du hast meinen Mann zugrunde gerichtet. Und du hast die Familie kastriert, indem du ihr die Torques weggenommen hast! Hast uns wehrlos im Angesicht unserer Feinde zurückgelassen und die ganze Menschheit ohne Verteidigung. Ich hätte meine Tochter nie diesen Mann heiraten lassen dürfen. Hätte dich nie von zu Hause fortgehen lassen dürfen. Und ich hätte dich schon vor langer Zeit töten sollen, Edwin!«
»Kann nicht behaupten, dass irgendwas davon besonders überraschend für mich kommt, Großmutter«, sagte ich nach einer Weile. »Ich wusste immer, dass du mir gegenüber mehr Verpflichtung als Liebe empfindest. Kinder merken so was.«
»Was willst du, Edwin?«
»Ich will deine Hilfe, Großmutter. Ja, dachte ich mir, dass das deine Aufmerksamkeit weckt. Ich brauche deine Hilfe und Mitarbeit, um die Familie wiederaufzubauen und wieder stark zu machen. Stark und einig. Eine geteilte Familie kann sich nicht behaupten, und die Geier versammeln sich bereits. Ich tue, was ich kann, um für Führung zu sorgen, aber wohin mein Blick auch fällt, entsteht eine neue Splittergruppe. Deine Billigung wäre ein großer Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, die Familie hinter mir zu einen. Deshalb bitte ich dich, allen Groll und alle Kränkungen, alte und neue, zu vergessen und mir zu helfen. Um der Familie willen.«
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