Sie hatte mein letztes Schulzeugnis in der Hand, und sie war sehr enttäuscht von mir. Offenbar war es voller Bemerkungen wie Muss sich mehr Mühe geben, Könnte besser sein und, am vernichtendsten von allen, Intelligent, lässt es aber an Disziplin fehlen. Schon mit zwölf war meine Persönlichkeit fast fertig ausgebildet. Die Matriarchin schalt mich mit ihrer kältesten Stimme, während ich schmollend und starrsinnig vor ihr stand. Es war nicht mein Fehler, wenn ich Fragen stellte, die die Lehrer nicht beantworten konnten oder wollten. Wissen Sie, ich ließ mir eben nichts befehlen. Ich hätte alles getan, wenn man mich gefragt hätte, aber ich machte nichts, was man mir befahl, wenn ich keinen guten Grund dafür erkennen konnte. Und eine Familie, die auf Verantwortung und Pflicht aufgebaut ist, konnte eine derartige Haltung niemals akzeptieren. Sie hatten versucht, mir Respekt einzuprügeln, und als das nicht funktionierte, gaben sie der Matriarchin Nachricht, die mich jetzt als faul und widerspenstig tadelte und mir prophezeite, mit mir würde es ein schlimmes Ende nehmen.
Ich denke, sie war hauptsächlich aus dem Grund ärgerlich, dass wir so eng verwandt waren und mein Versagen ein schlechtes Licht auf sie warf: Es wurde mehr von mir erwartet. Schon mit zwölf war ich alt genug, um zu fühlen, dass das ausgesprochen unfair war, aber ich hatte noch nicht das Zeug dazu, es in Worte zu fassen. Also stand ich nur mürrisch vor ihr und sagte nichts, selbst als sie versuchte, mich zu befragen. Am Ende warf sie mich raus und lieferte mich wieder den Lehrern und dem Seneschall aus. Ich glaube, sie nahm es mir übel, Zeit von wichtigeren Angelegenheiten abziehen zu müssen, nur um sich mit mir abzugeben. Ich war ihr nie wichtig gewesen, und da fragte sie sich, warum sie mir nicht wichtig war.
Ich blieb vor der Tür der Suite stehen, atmete tief durch, stieß sie auf und ging ohne anzuklopfen hinein. Fang an, wie du vorhast weiterzumachen, oder du wirst untergebuttert. Das luxuriös eingerichtete Vorzimmer war voller Menschen, die auf einmal alle schwiegen und mich mit kalten und unfreundlichen Mienen anstarrten. Es sah so aus, als sei ich nicht der Einzige, der die Matriarchin sprechen wollte, nun, da sie sich in die Abgeschiedenheit ihrer Räume zurückgezogen hatte, um ihren verletzten Alistair zu pflegen. Niemand im Vorzimmer wirkte auch nur im Geringsten erfreut, mich zu sehen, aber daran gewöhnte ich mich allmählich. Ich blickte einfach finster zurück und schritt forsch vorwärts, als ob ich beabsichtigte, auf jedem herumzutrampeln, der mir nicht schnell genug aus dem Weg ging. Normalerweise funktioniert das, aber diesmal wich niemand auch nur einen Zentimeter zur Seite. Sie rührten sich einfach nicht von der Stelle und blockierten den Weg zwischen mir und der Tür zum Schlafzimmer der Matriarchin auf der anderen Seite des Vorzimmers. Sie trotzten mir, sodass ich nicht an ihnen vorbeikam. Manche waren ihre Freunde, manche ihre Verbündeten; die meisten waren einfach nur fest entschlossen, mir so viel zu verweigern, wie sie nur konnten. Sie waren alle Leute von Rang und Macht gewesen, bevor ich alles über den Haufen geworfen hatte. Ich blieb stehen - entweder das, oder ich hätte Zuflucht zu fliegenden Fäusten und Kopfnüssen nehmen müssen, und so weit war ich noch nicht. Noch nicht ganz.
»Nun sieh mal einer an, wer hier ist!«, sagte ich. »Die ganzen vollwertigen Mitglieder der Lass-uns-die-Uhr-zurückdrehen-und-so-tun-als-ob-nichts-geschehen-wäre-Gesellschaft! Es sind Momente wie dieser, wo ich mich frage, ob wir nicht ein bisschen zu lasch im Umgang mit den für die Inzucht maßgeblichen Bestimmungen geworden sind. Alle mal die Hand heben, die an ihren Zehen bis elf zählen können!«
Ein Frau unbestimmten Alters trat vor, um mich herauszufordern. Ich kannte sie nicht, aber ich erkannte die Sorte.
»Wie kannst du es wagen?«, fragte sie laut. »Nach allem, was du der Familie und Martha und Alistair angetan hast! Wie kannst du es wagen, dein Gesicht hier zu zeigen?«
»So ist's richtig, Liebes! Sag's ihm!«, sagte ein Mann direkt hinter ihr. Es musste sich um ihren Ehemann handeln; er hatte diesen gut dressierten Blick. »Hast du gar kein Schamgefühl, Edwin?«
»Tut mir leid, nein«, antwortete ich. »Ist im Moment aus. Da werde ich wohl jemand in den Laden schicken müssen, um welches zu besorgen. Und schafft euch mir verdammt noch mal aus dem Weg, oder …«
»Oder was?«, fauchte die Frau mich an und verschränkte die Arme vor ihrer imposanten Brust. »Du kannst uns nicht herumkommandieren!«
»Ich glaube, ihr werdet feststellen, dass ich genau das kann«, entgegnete ich. »Vergesst nicht, ich habe einen Torques und ihr nicht! Aber was ich eigentlich sagen wollte war: Schafft euch mir aus dem Weg, oder ich werde den Seneschall reinrufen, um eure Namen festzustellen und Schädel einzutreten.«
Es war ein Bluff, aber das wussten sie nicht. Alle blickten zu der Tür hinter mir, als ob sie damit rechneten, jeden Moment den Seneschall ins Zimmer platzen zu sehen, und man konnte beobachten, wie der Trotz ihnen langsam abhanden kam.
Dennoch empörte sich die Frau unbestimmten Alters noch einmal. »Na hör mal!« Aber sie war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Ihr Mann war schon im Begriff, sich hinter ihr zu verstecken. Ich schritt vorwärts, und die Menge teilte sich vor mir wie das Rote Meer. Ich hielt den Rücken gerade, den Kopf erhoben und den Blick geradeaus gerichtet. Wenn man durch eine Meute gefährlicher Tiere geht, darf man keinen Moment lang Schwäche zeigen, oder sie gehen einem an die Kehle. Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer, trat hindurch und schloss sie hinter mir ruhig, aber fest.
Ich seufzte innerlich. Es ärgerte mich, dass sie mich nicht so respektierten, wie sie den Seneschall respektierten. Daran würde ich arbeiten müssen.
Das Schlafzimmer der Matriarchin war überraschend freundlich und anheimelnd, trotz aller Größe. Behagliche Möbel, viel Licht von den großen Fenstern, überall Blumen. Karten und Briefe, die Unterstützung zusicherten, standen auf jeder Oberfläche. Eine Handvoll Leute hielt sich im Zimmer auf, um ihre Aufwartung zu machen und Trost zuzusprechen. Sie hatten nicht erwartet, mich hier zu sehen, aber keiner sagte etwas. Sie blickten Martha an, um einen Anhaltspunkt für ihr Verhalten zu bekommen, doch die schien von meiner Anwesenheit nicht einmal Notiz zu nehmen.
Alistair saß, von Kissen gestützt, in dem großen Himmelbett. Er sah nicht gut aus. Selbst jetzt noch, Wochen nach dem, was vorgefallen war, war er in Verbände eingepackt wie eine Mumie. Er hatte die Decken bis zur Brust hochgezogen, als ob ihm kalt sei, obwohl ein loderndes Kaminfeuer für Temperaturen wie in einer Sauna sorgte. Die Verbände, die ich sehen konnte, waren mit Blut und anderen Flüssigkeiten befleckt, die durch sie durchsickerten. Sein rechter Arm war verschwunden. Die Chirurgen hatten ihn nicht retten können, deshalb hatten sie ihn ganz oben am Schulteransatz amputiert. Sein komplettes Gesicht war in Gaze eingewickelt, nur dunkle Löcher für Mund und Augen waren freigelassen worden. Ich konnte seinen Mund oder seine Augen nicht sehen.
Das kommt dabei heraus, wenn man sich mit Höllenfeuer einlässt. Er hätte nie versuchen sollen, die Salem Special zu benutzen: Diese Waffe tat nie irgendwem gut. Und vielleicht hätte sein Zustand mir mehr Mitgefühl abgenötigt, hätte ich nicht gewusst, dass genau das es war, was er meiner Molly hatte antun wollen.
Martha saß auf der Bettkante neben ihrem Mann und fütterte ihn mit Suppe aus einer Schüssel, ein Löffel nach dem andern. Als ob er ein Kind sei. Ich konnte mich daran erinnern, dass sie das auch einmal für mich getan hatte, ein Mal, als ich sehr klein war und die Ärzte glaubten, das Fieber würde mich dahinraffen. Tag und Nacht hatte sie bei mir gesessen und mich mit Suppe gefüttert, und ich hatte überlebt. Vielleicht hatte Alistair auch so viel Glück. Martha war ganz in Schwarz gekleidet, als ob sie in Trauer sei. Normalerweise war sie groß, stolz, aristokratisch und beängstigend beherrscht. Jetzt wirkte sie irgendwie … kleiner, als sei etwas Wichtiges in ihr zerbrochen. Es gefiel mir nicht, sie so sehen zu müssen. Ihr langes graues Haar, das sie sonst auf dem Kopf aufgetürmt trug, durfte jetzt einfach hinfallen, wo es wollte, und verdeckte den größten Teil ihres Gesichts. Aber ihre Hand war ruhig, als sie Alistair seine Suppe zuführte, und der Rücken, den sie mir so entschieden zuwandte, war fast schmerzlich gerade.
Читать дальше