Darum kümmere ich mich später, dachte er entschlossen.
Es gibt eine Menge Dinge, um die ich mich später kümmern muss.
»Sir Champion!«, rief er. Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen.
»Sire?« Der Champion stand neben ihm, mit geradem Rücken, den Kopf hoch erhoben. Sein zerfetztes Kettenhemd war mit Dämonenblut getränkt.
»Wir müssen versuchen, die Burg zu erreichen, Sir Champion. Im Laufschritt, da hilft alles nichts. Wenn wir stehen bleiben und weiterkämpfen, kommen wir alle um. Trommeln Sie die Männer zusammen und sagen Sie ihnen, dass wir sofort aufbrechen. Der Große Zauberer kann die Dämonen durch Störfeuer ablenken. Verstehen Sie mich? Ja? Gut. Sie übernehmen die Führung, Sir Champion. Alle anderen folgen Ihnen.«
»Jawohl, Sire. Wir kämen übrigens schneller voran, wenn Sie sich entschließen könnten, auf dem Einhorn zu reiten.«
Rupert wandte sich dem Einhorn zu. Trotz seiner Benommenheit erkannte er klar, dass die Flanken des Tieres blut
überströmt waren. So hatte das Einhorn schon einmal ausgesehen, damals auf der Lichtung des Dunkelwaldes, als er selbst nur knapp dem Tod entronnen war… Rupert schob die Erinnerung beiseite.
»Was ist, Einhorn?«, fragte er ruhig. »Kannst du mich so weit tragen?«
»Locker. Kein Problem. Ich habe kaum einen Kratzer abbekommen. Steig auf, Rupert!«
Der Champion formte die Hände zum Steigbügel und hievte Rupert mit Schwung auf den Rücken des Einhorns. Einen Moment lang schwankte Rupert im Sattel und kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihn zu überwältigen drohte. Er bemerkte mit einem grimmigen Lächeln, dass er irgendwie immer noch das Schwert umklammert hielt. Ein gutes Omen – wenn man an Omen glaubte.
Draußen in der Schwärze bewegte sich etwas.
»Im Laufschritt zur Burg! Los!« Ruperts Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern, aber seine Männer setzten sich in Bewegung, noch ehe er den Befehl richtig ausgesprochen hatte. Er hielt sich mit den Knien verzweifelt an den Flanken des Einhorns fest, als es lostrabte, und starrte angestrengt in das Dunkel. Der Champion lief vor ihm, die Streitaxt drohend erhoben. Der Große Zauberer schwebte über ihnen. Von seinen Fingerspitzen knisterten und zischten helle Blitze in die Nacht. Und vierzehn Kämpfer folgten Rupert in Richtung auf das Burgtor.
Vierzehn. Vierzehn von fünfzig. Rupert ließ den Kopf kraftlos in die Mähne des Einhorns sinken, zu erschöpft, um sich aufrecht im Sattel zu halten. Die Hand, die das Schwert umklammerte, wurde immer schlaffer, und nur der grässliche Schmerz, der ihn bei jedem Schritt seines Reittiers über den holprigen Boden durchzuckte, hielt ihn bei Bewusstsein. Es störte ihn nicht, dass er versagt hatte; das war er gewohnt.
Aber die Männer waren ihm gefolgt und hatten ihm vertraut, und er hatte sie ins Verderben geführt. So wie er das Einhorn ins Verderben geführt hatte, damals, als es blutüberströmt und gebrochen auf jener kleinen Lichtung im Dunkelwald lag.
Nur hatte er diesmal keinen Regenbogen, um die Finsternis zu vertreiben.
Trotz der Schmerzen in der Schulter fielen ihm die Augen immer wieder zu. Er wusste, dass er einer Ohnmacht nahe war, aber das war ihm gleichgültig. Die Bewusstseinstrübung schien sowohl die Schmerzen als auch die Erinnerungen zu dämpfen, und genau das hatte er jetzt nötig. Die Riesenbäume des Waldkönigreichs ragten aus dem Dunkel auf und verschwanden wieder, während das Einhorn der Burg entgegentrabte. Rupert kämpfte gegen ein Gefühl der Übelkeit an, als er die großen Faulstellen entdeckte, die sich überall durch die Rinde fraßen. Trotz der Finsternis und der Dämonenhorden hatte er bis jetzt nicht wahrhaben wollen, dass der Wald seiner Heimat tot war; allein der Gedanke daran schien ihm abwegig. Den Wald hatte es immer schon gegeben, lange vor den Menschen, und tief in seinem Innern war Rupert davon überzeugt gewesen, dass er weiter existieren würde, wenn die Menschen längst verschwunden und vergessen wären. Der Anblick der Todeszeichen an den großen alten Bäumen schmerzte ihn mehr als der Gedanke, dass er vermutlich selbst dem Tod geweiht war; denn wenn der Wald der Finsternis zum Opfer fiel, gab es ohnehin für nichts und niemanden mehr eine Hoffnung. In diesem Moment starb in Rupert der letzte Funke der Zuversicht. Langsam begann die Welt um ihn zu verblassen und mit ihr der Schmerz und das Leid.
Und dann schoss ein grinsender Dämon aus der Schwärze auf ihn zu, und ein Reflex riss seinen Schwertarm nach oben.
Das lange, dürre Wesen sprang in die Klinge und sank mit gefletschten Zähnen zu Boden, ohne einen Laut von sich zu geben. Rupert starrte verständnislos auf sein blutiges Schwert und schüttelte den Kopf, während der dumpfe Zorn, der in ihm schwelte, immer heißer loderte und ihn schließlich aus seiner Betäubung riss. Vielleicht kam er zu spät, um den Wald zu retten, aber er konnte ihn zumindest rächen. Eine Dämonenhorde stürmte aus der Dunkelheit heran, und Rupert hieb mit dem Schwert darauf ein, während das Einhorn seine letzten Kräfte sammelte, um das Burgtor zu erreichen, bevor die Angreifer es zu Boden zerren konnten.
Der Champion pflügte eine Gasse durch die Dämonen, ohne in seinem Lauf innezuhalten, den Blick starr auf die hochgeklappte Zugbrücke gerichtet. Die Soldaten nahmen das Einhorn in die Mitte und bildeten eine Abwehrkette gegen die Dämonen, die lautlos aus der Schwärze strömten. Rupert musste hilflos mit ansehen, wie drei weitere seiner Männer den Fängen und Klauen der Gegner zum Opfer fielen, und konzentrierte sich darauf, nicht abgeworfen zu werden. Er versuchte mit der Linken nach den Zügeln zu fassen, aber die Finger gehorchten ihm nicht. Die Burg war nur noch fünfzig Meter entfernt, doch ebenso gut hätten es fünfzig Meilen sein können. Die Straße zum Tor wurde von den Dämonen vollkommen blockiert. Ein unterdrückter Schrei zu seiner Rechten verriet, dass er schon wieder einen Mann verloren hatte, aber er fand nicht einmal die Zeit, sich nach ihm umzudrehen.
Die Dämonen hatten ihn fast erreicht, und die Schritte des Einhorns wurden immer schleppender. Rupert widerstand dem überwältigenden Drang, einfach umzukehren und zurück in die Finsternis zu reiten, um sein Schwert niedersausen zu lassen, bis er in Dämonenblut ertrank. Lieber im Kampf sterben als auf der Flucht! Der Impuls verflog so rasch, wie er aufgetaucht war, und der Prinz hieb mit einem grimmigen Lachen einen Angreifer entzwei, der die Klauen nach ihm ausstreckte. Er war nicht bis hierher gekommen, um sein Leben für eine Geste wegzuwerfen. Er hatte den Dunkelwald überwunden, um den Zauberer aus dem Schwarzen Turm zu holen, und nun kehrte er heim, und wehe dem, der ihn aufzuhalten wagte!
Das Einhorn stolperte weiter, Schritt für Schritt. Ruperts Schwertarm hob und senkte sich gleichmäßig und metzelte die Angreifer nieder. Die Burg kam langsam näher… aber die Dämonen gaben nicht auf. Vierzig Meter. Dreißig. Fünfundzwanzig. Wir könnten es doch noch schaf f en, dachte Rupert. Wir könnten es ganz knapp schaf f en! Gespenstische, verzerrte Gesichter tauchten bedrohlich aus der Dunkelheit ringsum. Er hieb mechanisch mit dem Schwert auf sie ein.
Ein schwerfälliges Pochen klang irgendwo weit hinter ihm auf; ein träger, dumpfer Laut wie das Schlagen eines gigantischen Herzens. Anfangs hielt der Prinz das ferne Geräusch für Donnergrollen. Doch dann erbebte der Boden im Takt zu dem tiefen Bassrhythmus, und er erkannte, dass sich etwas unbeschreiblich Großes und Schweres langsam durch den Dunkelwald hinter ihm heranwälzte. Rupert wagte einen raschen Blick über die Schulter, doch das undurchdringliche Dunkel nahm ihm die Sicht. Und dann spürte er, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als ein grausiger, halb erstickter Schrei die lange Nacht zerriss; ein ohrenbetäubendes Geheul, erfüllt von Hass und unvorstellbarer Wut. Der Boden bebte stärker, je näher die Kreatur kam. Das Gefühl einer uralten, bösen Macht breitete sich aus. Rupert dachte an den großen weißen Wurm, den er in der Kupferstadt bekämpft hatte, und trieb das Einhorn zur Eile an.
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